Nach dem Fiasko der CSV versucht Jean-Claude Juncker vielleicht zum letzten Mal, den bedrückenden Verhältnissen der nationalen Politik zu entkommen. Er läuft Gefahr, erneut zu scheitern

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d'Lëtzebuerger Land vom 03.01.2014

„Also ich schließe völlig aus, dass ich für die Euro­päische Volkspartei als Spitzenkandidat zur Europawahl antrete. Völlig ausgeschlossen!“ So hatte Jean-Claude Juncker am 17. November in der Schweizer Fernsehsendung NZZ-Standunkte beteuert. Er wolle auf keinen Fall Kommissionspräsident werden. „Denn man soll nicht 2014 etwas tun, was man 2004 hätte machen können.“

Nur einen Monat später von der französischen Tageszeitung Le Monde befragt, ob er Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei und anschließend Kommissionspräsident werden wolle, antwortete Juncker: „Je suis prêt si on me le demande. Je demande juste des libertés en termes de programme.“

Solche Widersprüche versucht Jean-Claude Juncker mit der Beteuerung zu rechtfertigen, er sei mittlerweile ein „freier Mann“. Aber sie bestärken Parteifreunde und ehemalige Regierungskollegen in der Überzeugung, dass er sich selbst sein größter Gegner ist, wenn er sich nach den Kammerwahlen 2013 wieder einmal und vielleicht zum letzten Mal um ein europäisches Amt bewirbt. Sei es um dasjenige des Kommissionspräsidenten, das er nach den Kammerwahlen 2004 abgelehnt hatte, sei es um dasjenige des ständigen Vorsitzenden des Europäischen Ministerrats, das ihm die französische und deutsche Regierung nach den Kammerwahlen 2009 verweigerten.

Doch einig sind sie alle, dass der langjährige Pre­mierminister nicht als Oppositionspolitiker auf dem Krautmarkt versauern möchte. Denn auch wenn der 59-Jährige im Vergleich zur im Schnitt 50-jährigen neuen Regierungsmannschaft abgekämpft aussieht, fühlt er sich für die Pension noch zu jung. Und fünf Jahre lang im Parlament zu nörgeln, dass er alles besser kann als Xavier Bettel, ist keine politische Perspektive.

So ist es wieder an der Zeit für den Nationalsport, das heitere Beruferaten um den Mann, der gleichzeitig fast 20 Jahre lang die nationale Politik beherrschte und seit einem Jahrzehnt nichts wie weg will. Die Mehrheit der CSV betet seit Jahren dafür, dass mit Junckers Aufstieg in europäische Gefilde endlich ein neues Kapitel Parteigeschichte aufgeschlagen werden kann. Und bei der Amtsübergabe vor einem Monat versicherte auch DP-Premier Xavier Bettel ohne falsche Scheu gleich als Erstes, dass sein Vorgänger die volle Unterstützung der Regierung genieße, um sich aus der nationalen Politik zurückzuziehen.

Ob Juncker tatsächlich sich selbst sein größter Gegner ist, sei dahingestellt. Sicher aber ist, dass er so schon genug davon hat, hierzulande und im europäischen Ausland. Denn prompt zu seinem öffentlichen Interesse am Kommissionsvorsitz gelangte am 12. Dezember aus dem Umkreis des Geheimdienstes ein Bericht Die Sache mit der Uhr... in das Wirtschaftsmagazin Paperjam, der ihn als unbeherrschten Trunkenbold darstellt, der sexuelle Eskapaden zu rechtfertigen scheint – angeblich ein Sicherheitsrisiko für ein exponiertes internationales Amt.

Zwei Tage nach seiner Ankündigung versuchte auch seine Parteikollegin und Europäische Kommissarin Vi­viane Reding, vollendete Tatsachen zu schaffen. Ohne die Verabschiedung der CSV-Kandidatenliste für die Europawahlen abzuwarten kündigte sie über Radio Latina an: „J’ai décidé ensemble avec mon parti, qui va annoncer ça probablement en début de l’année prochaine de prendre la tête de la liste aux Euro­péennes et puis je vais faire une campagne avec les citoyens pour leur expliquer l’importance de cet enjeu politique et aussi les choix à faire.“ Dass Jean-Claude Juncker gerade in Le Monde seine Kandidatur angekündigt hatte, tat sie geringschätzig als Gerücht ab: „Mais vous savez comment sont les médias. Il y aura des spéculations maintenant une par semaine au moins, alors il faut s’y attendre. Moi, j’ai décidé de prendre ça très cool, très tranquille et de ne pas réagir aux spéculations.“

Viviane Reding, die unter der neuen DP/LSAP/Grüne-Regierung dieses Jahr ihr Amt aufgeben muss, sorgt sich um Artikel 9d des im Dezember 2007 unterzeichneten Vertrags von Lissabon, der besagt: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäi­schen Parlament nach entsprechenden Konsulta­tionen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament.“ Sie befürchtet, dass Juncker im letzten Augenblick doch noch zu den Europawahlen antritt, um seine Aussichten auf den Kommissionsvorsitz zu verbessern – laut Wahlgesetz müssen die Kandidatenlisten bis zum 26. März deponiert sein.

Denn die in der Europäischen Volkspartei zusammengeschlossenen konservativen Regierungschefs und Oppositionsführer hatten sich am 19. Dezember vor dem Europäischen Gipfel in Meise bei Brüssel getroffen, um über einen Spitzenkandidaten für die Europawahlen und damit Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu beraten. Dabei legten sie eine Prozedur zu dessen Bestimmung fest. Danach können Interessenten zwischen dem 13. Februar und dem 5. März ihre Kandidatur einreichen. Die eingegangenen Kandidaturen werden während des EVP-Kongresses in Dublin am 6. März begutachtet und dann am 7. März zur Abstimmung gebracht. Statt, wie bisher, den Kommissionspräsidenten zwischen einigen Regierungschefs auszuhandeln, kommt nun auch die EVP nicht daran vorbei, ein gewisses Maß an Offenheit und Transparenz zu zeigen. Das könnte Jean-Claude Junckers letzte Chance sein, um eine Mehrheit oder als Trostpreis ein anderes Amt herauszuschlagen.

Denn Juncker hat nicht nur Widersacher hierzulande. Das liberale Hamburger Magazin Der Spiegel meldete am Wochenende: „Doch Merkel versucht angeblich, eine Spitzenkandidatur Junckers zu hintertreiben. Sie fürchtet, dass sich der Luxemburger mit seiner unverblümten Kritik an Freund und Feind viele EU-Staats- und Regierungschefs zu Gegnern gemacht hat. Auch das Verhältnis zwischen Juncker und Merkel selbst gilt als belastet.“

Die konservative Die Welt zitierte am am Montag „hohe EU-Diplomatenkreise“ mit der Feststellung: „Der Mann geht ihr mächtig auf die Nerven.“ Denn „Junckers zeitweiliges Krisenmanagement als Chef der Euro-Gruppe, seine gelegentlich als ‚Besserwisserei’ empfundenen Bemerkungen, seine Kritik an den Kungeleien zwischen Merkel und dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy und sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das er auch in einem EU-Spitzenamt zeigen würde – all das hat Merkel nicht vergessen.“

Angela Merkel hatte Juncker am 8. November schon eine Abschiedszeremonie auf Schloss Meseberg in Gransee im Norden Berlins, dem Gästehaus der Bundesregierung, organisiert und ihm das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland als Dank für sein europäisches Engagement verliehen, das sie damit für beendet anzusehen schien.

Um Angela Merkel doch noch umzustimmen, hatte LSAP-Außenminister Jean Asselborn Juncker am 7. Dezember eine Steilvorlage geliefert und in einem Gastkommentar für das Düsseldorfer Handelsblatt die deutsche Kanzlerin und ihre Regierung barsch aufgefordert: „Packt die Peitsche weg!“ und dafür kritisiert, „dass das Handeln Deutschlands manchmal zu sehr auf sich selbst bezogen war. Der ‚deutsche Steuerzahler’ und seine Interessen wurden mit mechanischer Hartnäckigkeit verteidigt“.

Juncker ließ nicht lage auf sich warten und veröffentlichte eine Woche später einen hemmungslosen Lobgesang auf Merkel: „Angela Merkel tut Europa gut. [...] Denn die christlichen Werte der Familie Merkel prägen das Menschen- und ergo auch das Welt- und Europabild der Angela Merkel bis heute. Dies ist unsere erste Gemeinsamkeit. Auf diesem Menschenbild beruht für die deutsche, fast natürliche Christdemokratin die zentrale Stellung der menschlichen Person in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Dies ist unsere zweite Gemeinsamkeit. [...] Und ich kann mich meiner deutsch-europäischen Freundin hier nur anschließen. Dabei gibt es – auch wenn wir aus einem Jahrgang sind – in unser beider Leben zahlreiche Dinge, die verschieden sind. Auch dieser ureuropäische Dreiklang von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit verbindet mich mit Angela Merkel. [...] Viele Politiker Europas können sich von diesen Werten, aber auch von der Einfachheit des Alltags der Angela Merkel noch so manche Scheiben abschneiden. [...] Richtig und gut ist, dass Angela Merkel Deutschland und Europa führt. [...] Angela Merkel diktiert nicht: Sie integriert vielmehr. [...] Gerade in Sachen vertikale Nachhaltigkeit und Klimaschutz durfte ich dabei vieles von ihr lernen. [...] Und Angela Merkel ist insofern auch eine begnadete Erzählerin. [...] Richtig ist, dass Angela Merkel eher über eine rationale Herzlichkeit der Werte verfügt.“

Doch vielleicht reichen selbst solch überschwängliche Liebeserklärungen nicht aus, um Kommissionspräsident zu werden. Denn Luxemburger Politiker, die weder über große ökonomische, noch militärische Arsenale verfügen, kommen nicht wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Talente zu internationalen Ehren und Ämtern, sondern als Kompromisskandidaten. Selbst dafür scheint aber Jean-Claude Junckers Zeit vorbei. Denn als Politiker aus einem Zwergstaat kann er nicht überzeugend für die nun wieder praktizierte intergouverneentale Methode plädieren. Und bei aller politischen Anpassungsfähigkeit während der Institutionalisierung der Austeritätspolitik in der Euro-Krise verkörpert er weniger ein Zukunftsprojekt als die Nostalgie nach dem Europa der Neunzigerjahre, der Kohl, Mitterrand und Chirac.

Romain Hilgert
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