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Die Demokratie retten

d'Lëtzebuerger Land vom 10.07.2020

Wie kann die Demokratie wieder aktionsfähig werden? Diese Frage versucht einer der europäischsten Schweizer zu beantworten, der Publizist Roger de Weck. Dabei beginnt sein Buch Die Kraft der Demokratie fast biblisch: Am Anfang der Aufklärung stehe der Zweifel. Damit will der Autor vermitteln, dass die Aufklärung keineswegs ein Zustand sei, sondern eine Suche. De Weck ist ein Suchender; er sucht nach Antworten auf den grassierenden Rechtspopulismus und die entfesselte transnationale Wirtschaftselite (S. 16).

Big Business, Big Data und die Freiheit des Kapitalverkehrs gingen Hand in Hand und bereiteten so den Weg in die vollständig „neoliberalisierte Demokratie“, in der die Politik letztlich nur noch wirtschaftshörig agiere (S. 17). Die Geringqualifizierten blieben dabei auf der Strecke. Der in dieser Konstellation überhörte beziehungsweise unbeachtete Bürger wird empfänglich für die Parolen der Reaktionären, die ihm das angeblich wahre Übel vorführen: die Migranten, die Feministinnen, die „Fridays for Future-Bewegung“. Den globalisierten „Ultrakapitalismus“, den eigentlich politisch lähmenden Faktor, ignorieren sie dabei, weil viele der reichen Reaktionäre wie Donald Trump ganz gut daran verdienen. Neuerechte unterstützen demnach gemeinhin eine Geldumverteilung von unten nach oben. De Weck sieht in diesem unheilvollen Zusammenhängen einen Teufelskreis: „Der deregulierte Kapitalismus nährt den Populismus – der Populismus dereguliert die Demokratie. Beide spalten das Gemeinwesen“ (S. 46).

Allerdings sei ein weiterer Faktor für die Attraktivität reaktionärer Kräfte die kulturelle Deklassierung der wenig qualifizierten Arbeitnehmer: Viele fühlen sich, als würden sie der Entwertung ihrer Expertise und ihres Wissens in Echtzeit zusehen. Wer dabei zugleich „das Ausfransen des Wohlstands am Horizont“ sieht, ziehe Rechte vor, die vorgeben, die Betroffenen vor einem sozialen Absturz zu bewahren (S. 53). In einem Szenario, in dem das Kapital kaum noch besteuert wird (denn es sonnt sich in Steueroasen), muss die Mittelschicht den Sozialstaat stützen – was ebenfalls nicht zur Beliebtheit der Demokratie beiträgt: Die Mittelschicht beschuldigt die Regierenden und die Armen der Apathie.

Auch in dieses Vakuum springen die Reaktionären, die den Leuten angeblich zuzuhören. De Weck zitiert Matteo Salvini, um den Selbstzweck dieser Ganz-Ohr-Rhetorik zu veranschaulichen; Salvini sagte: „Ich höre den Leuten zu, so hören sie auf mich“ (S. 56). Die Neoliberalen wiederum entziehen der Demokratie im Stillen ihre Befugnisse (S. 57). Zum Teil schrieben die Lobbyisten heute an Gesetzentwürfen mit, die die Macht der Demokratie noch weiter aushöhlen.

Wer ist Roger de Weck? Der studierte Volkswirt war Chefredaktor der Zeit und des Schweizer Tages-Anzeiger, bevor er von 2011 bis Ende 2017 Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft war. Heimatberechtigt ist de Weck im zweisprachigen Fribourg; er spricht Deutsch und Französisch fließend. Laut der Journalistin Claudia Landolt wirke sein gesprochenes Deutsch „mit fein gesetzten Pausen, als leite er eine psychotherapeutische Sitzung“. Womöglich ein Grund, weshalb de Weck rauf und runter parodiert wurde, beispielsweise in der Sendung Grüezi, Monsieur de Weck.

Aber gerade weil der Autor im deutschsprachigen genauso wie im französischsprachigen Europa zu Hause ist, lohnt sich sein Buch für Luxemburger. De Weck springt von Macron zu Merkel, von Le Pen zu Gauland, von der französischen Staatsgeschichte zu Erläuterungen des deutschen Staatsapparates. Zwischendurch kommen zusätzlich Beispiele aus Italien, Großbritannien und der Schweiz.

Um die Demokratie zu reaktivieren, macht das Buch eine Reihe an Vorschlägen. Wie beispielsweise die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre: Dann könnten sich Jugendliche schon früher in die Politik einbringen und über Maßnahmen abstimmen, die ihre Zukunft betreffen. Überdies müssten dem Steuerwettbewerb Grenzen gesetzt werden: „Sonst werden transnationale Unternehmen weiterhin die Nationalstaaten gegeneinander ausspielen.“ Ein erster Schritt der Regulierung könne die von der OECD im Oktober 2019 geplante Reform werden, die vorsieht, Konzerne auch in den Staaten zu besteuern, wo sie den größten Absatz erzielen. Dringend in die Schranken verwiesen werden sollten zudem die digitalen Plattformen, die mit ihrem Speichereifer Privatsphäre und Freiheit bedrohen. Andernfalls drohe in zehn Jahre, dass „zwei Dutzend Digitalkolosse weite Teile der Weltwirtschaft“ beherrschen. Entgegenwirken könne dem beispielsweise eine Gafa-Regulierungs- und Aufsichtsbehörde mit Eingriffsbefugnissen (S. 260).

Der Schweizer führt auch die Direkte Demokratie ins Feld. Er denkt dabei jedoch nicht an vorgegebene Plebiszite, sondern an Referenden, die aufgrund einer Volksinitiative zustande kommen – wie das in der Schweiz gängig ist. Als Vorbild für die Direkte Demokratie könnten ferner per Los gezogene Bürgerräte dienen, die ihre Volksbegehren in die Politik einbringen, wie derzeit in Ostbelgien der Fall (S. 266).

De Wecks Kraft der Demokratie verbleibt nicht nur bei der Politik, sondern macht auch einen gehaltvollen Schwenk zu Neonazi-Bands sowie der deutschen Rap-Szene und seziert deren Semantik. Auch die Identitätspolitik analysiert de Weck. Anders als viele Feuilletonisten konstatiert er keine identitätspolitischen Exzesse im linken Spektrum Europas. Viel eher beunruhigen ihn die Identitären, die er „Aktivisten des unkritischen Weißseins“ nennt. Überall sähen Rechte eine „Malaise der Toleranz“ (S. 102) und beschuldigten andere: „Ihr Sozialliberalen seid gefährlich, weil nicht böswillig genug“ (S. 102). Reaktionäre würden so ihre Themen setzen, während die liberalen Kräfte ihre Zeit verplempern, um auf die Anschuldigungen zu reagieren, statt Modelle für die Zukunft zu skizzieren.

Eine Identitätspolitik, wie sie auf angelsächsischen Uni-Campussen aufkocht und jeden Satz einer Person an deren Hautfarbe koppelt, bezeichnet er hingegen als unfruchtbar: Sie nehme dem Sprecher die Möglichkeit, seinen eigenen Standpunkt zu transzendieren. Und auch wenn gelegentlich Vorlesungen gestört werden, was übrigens schon passierte, ehe der Begriff der „politischen Korrektheit“ grassierte, lasse sich daraus nicht der neurechte Vorwurf ableiten, dass die Meinungsfreiheit behindert würde (S. 116). Dass die politische Korrektheit der Grund sei, weshalb Rechte Aufwind haben, bezweifelt de Weck mit Verweis auf Ungarn oder Frankreich, wo diese Diskussionen nur marginal geführt werden. Er kommt auf den Verdacht: Verdirbt vielleicht eher eine krude Unkorrektheit die Demokratie, statt der Korridor der politischen Korrektheit? Das Kerngeschäft der Reaktionären bestehe darin, „Menschenverachtung salonfähig“ zu machen (S. 129).

Allerdings brauche man nicht mehr Menschenverachtung, sondern ein neues Weltethos.In seiner Reise durch den Zeitgeist Europas verweist der Autor auf die in Luxemburg zu besichtigende Family of Man-Ausstellung: „In unserer Gegenwart, in welcher der Heißhunger der Industriestaaten nach Energie und die Amazonas-Brände globalen Schaden anrichten, wird das Family of Man-Ethos noch existenzieller.“ (S.134).

Als Family of Man brauche die Menschheit überdies eine grüne Vision. Und so wartet der Autor auch in diesem Bereich mit Vorschlägen auf. Er skizziert die Idee einer Umweltkammer: „eine vom Volk gewählte Parlamentskammer, die jeden Gesetzesentwurf einzig und allein unter dem Aspekt der Ökologie“ zu beschließen hätte. Nach ecuadorianischem Vorbild umreißt er den Vorschlag für einen Europäischen Gerichtshof, der die Rechte der Natur verteidigen würde. Und schließlich müsse der CO2-Emissionshandel durch eine lobbyunabhängige „Europäische Klimazentralbank“ straff reguliert werden.

Nach dem Erscheinen des Buches wurde de Weck als einer der „gewichtigsten Intellektuellen der Schweizer Gegenwart“ (swiss.info, März 2020) bezeichnet. Womöglich aber machte das Gerücht schon vorher die Runde. So fragt ihn der Komiker Michael Elsner in seiner Comedy-Sendung: „Wie intellektuell findest du dich?“. Elsner und de Weck liegen zusammen auf der Showbühne in einem Bett. De Weck will den pillow talk abwehren und kontert: „In den Schweizer Medien gilt jemand, der mehr als drei Bücher gelesen hat, als Intellektueller.“ Er selber aber pflegt als Publizist keine Anti-Medien-Haltung, sondern verteidigt guten Journalismus: „Eine gute Demokratie ist auf guten Journalismus angewiesen“, schreibt er in seinem Buch (S. 275).

Roger de Weck, Die Kraft der Demokratie: Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre. Suhrkamp Verlag Frankfurt, 2020. 326 S. Eine Vorlesung des Publizisten de Weck, die am 17. Juni im Echternacher Trifolion stattfinden sollte, hat Coronabedingt abgesagt werden müssen.

Stéphanie Majerus
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