Die Verstaatlichung der von Mindestlohn und Index verursachten Lohnkostenerhöhung könnte sich in der Praxis als delikat erweisen

Kompensation als Politik

d'Lëtzebuerger Land vom 04.11.2010

Nach drei Stunden Verhandlungen am Samstag im Sitzungssaal des Staatsministeriums konnte der Vorsitzende des Unternehmerdachverbands UEL, Michel Wurth, Erfolg vermelden: „Nächstes Jahr kommt es zu keiner Steigerung der Lohnkosten.“ Während sich die Bankenvereinigung ABBL und andere Unternehmerorganisationen um die Drosselung der Tarifgehälter kümmern dürften, kündigte Regierungschef Jean-Claude Juncker an, dass die Betriebe nächstes Jahr nichts von der geplanten Mindestlohnerhöhung und einer möglichen Indextranche spüren sollen. Und über die Lohnnebenkosten, die Krankenkassenbeiträge, ist noch nicht das letzte Wort gesprochen.

Etwas abgekämpft erklärte der kurz zuvor von einem EU-Gipfel zurückgekehrte Premier, „dass der Betrag, um den die Lohnmasse durch die Erhöhung des Mindestlohns steigt, kompensiert wird durch einen zusätzlichen Beitrag der Regierung in die Mutualitätskasse, die wir im Zusammenhang mit der Einführung des Einheitsstatuts eingeführt haben“. Diese Mutualité des employeurs ist eine seit Anfang vergangenen Jahrs betriebene Zwangsversicherung der Unternehmen, welche die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu 80 Prozent zurückerstattet. Die Beträge werden von den Unternehmen auf der Bemessungsgrundlage der Beträge für die Geldleistungen der Krankenversicherung entrichtet und betragen dieses Jahr zwischen 0,88 und 2,01 Prozent, je nach Häufigkeit der Krankschreibungen in den Betrieben.

Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2009 um zwei Prozent kostete laut Motivenbericht zum entsprechenden Gesetzentwurf die Unternehmen insgesamt jährlich 17,6 Millionen Euro. Die 1,9-prozentige Erhöhung ab 1. Januar 2011 dürfte also jährlich ähnliche Mehrkosten verursachen. Das heißt, dass auch der staatliche Zuschuss in die Mutualitätskasse in dieser Größenordnung liegen dürfte.

Der Premier meinte, dass diese Kompensation aus dem für die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge um 0,4 Prozent vorgesehenen Kredit gespeist werden könnte. Der Haushaltsentwurf für 2011 gehe nämlich noch von einer Beitragserhöhung um 0,4 Prozent aus, die inzwischen schon auf 0,2 Prozent gesenkt worden sei. Und Juncker ließ offen, ob die Regierung nicht auch auf die 0,2-prozentige Beitragserhöhung verzichten wird.

Laut Haushaltsentwurf für 2011 soll die vor allem von der Beschäftigtenzahl und der Lohnmasse abhängige staatliche „Beteiligung an der Finanzierung der Krankenversicherung“ nächstes Jahr um 40,5 Millionen Euro steigen, rund das Doppelte der Kosten, die eine Mindestlohn­erhöhung verursacht.

Diese Form der Kompensation hat einen Umverteilungseffekt innerhalb der Unternehmerschaft, nicht unähnlich dem vom rechten CSV-Flügel und dem Luxemburger Wort befürworteten „gedeckelten Index“. Denn es sind zuerst mittelständische Unternehmen aus Handel, Handwerk, Bau- und Gaststättengewerbe, die am häufigsten Mindestlöhne zahlen und somit als erste von der Mindestlohnerhöhung betroffen sein werden. Während die Kompensation über die Mutualitätskasse aber auch Banken und Industrien zugute kommt, welche am 1. Januar keine zusätzlichen Kosten haben werden, weil ihre Tariflöhne meist deutlich über dem Mindestlohn liegen.

„Die Mutualitätskasse, die ja vom Patronat in Exklusivregie geführt wird“, so Jean-Claude Juncker, könne dann entweder „die Beiträge ihrer Mitglieder, die in diese Kasse zahlen, absenken, oder aber den Prozentbetrag an der Beteiligung des Krankengelds, den die Mutualität übernimmt, nach oben anpassen“. Diese Entscheidung dürfte in unterschiedlichem Maß zu einer weiteren Umverteilung führen, da die Betriebe, die am meisten Mindestlohnbezieher beschäftigen, nicht unbedingt diejenigen sind, die am meisten Krankmeldungen und damit Lohnfortzahlungen haben.

Offen bleibt, wie lange der Staat nach 2011 diese Kompensation in die Mutualitätskasse zahlt. Denn derzeit zahlen die Versicherten aus dem ehemaligen Arbeiterstatut einen Sonderbeitrag in die Mutualitätskasse, der nach 2013 vom Staat geleistet werden soll – wenn auch eine weitere Mindestlohnerhöhung fällig geworden sein wird.

Neben der Kompensation der durch die Mindestlohnerhöhung entstehenden Kosten bot die Regierung den Unternehmern auch eine Kompensation der nächstes Jahr durch eine Indexanpassung entstehenden Kosten an. Nachdem sie sowohl den „sozialen Index“, die Anpassung auf dem Gegenwert des doppelten Mindestlohns, wie auch die Entfernung des Treibstoffs aus dem Indexwarenkorb abgelehnt hatten, erklärten sich die Gewerkschaften vor einem Monat mit der vom Statec in Umlauf gebrachten Fristenlösung einverstanden – wenn auch einstweilen bloß für zwei Jahre. Danach sollen, unabhängig von der Preisentwicklung, zwischen der letzten und der nächsten Indextranche mindestens 14 Monate und bis zur folgenden dann mindestens 12 Monate vergehen, so dass sie frühestens am 1. Oktober 2011 und am 1. Oktober 2012 ausgezahlt werden sollen.

Wird eine Tranche tatsächlich vor dem Jahresende fällig, soll der Staat die zwischen Oktober und Dezember anfallenden Mehrkosten über einen Steuernachlass im Folgejahr ausgleichen. In den vergangenes Jahr vorgestellten 109 Vorschlägen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit veranschlagte die UEL die Kosten einer Indextranche auf rund 400 Millionen Euro für die Wirtschaft. Demnach würden die Kosten für die Zeitspanne zwischen Oktober und Dezember grob ein Viertel oder 100 Millionen Euro ausmachen. Zum Vergleich: Die für nächstes Jahr vorgesehenen Steuererhöhungen sollen nach letztem Stand insgesamt 250 Millionen Euro einbringen.

Woher der Staat die Mittel zur Kompensation nähme, weiß derzeit niemand so genau. Jean-Claude Juncker meinte am Samstag, dass der Steuernachlass sowieso erst 2012 gewährt würde, so dass Haushaltsminister Luc Frieden sich erst beim Aufstellen des Haushaltsentwurfs für 2012 Gedanken machen müsste.

Bei einem 100-Millionen-Betrag ist es zudem verständlich, dass sich alle Beteiligten bemühen dürften, die Fälligkeit der nächsten Indextranche bis zum 1. Januar 2012 hinauszuzögern, so dass die Kompensation entfiele. Sei es durch ein erneutes Einfrieren der verordneten Preise, das eine oder andere Rechenkunststück oder die im ­Koalitionsabkommen abgemachte Neudefinition der Krisenparameter im Indexgesetz. Das statistische Amt des Wirtschaftsministeriums meldete am Mittwoch erneut, dass die nächste Indextranche nach derzeitigem Stand der Wissenschaft „nicht vor dem vierten Quartal 2011“ fällig werden dürfte. ­Welche Art von Steuernachlass die Kosten einer Indextranche kompensieren soll, ist noch offen. Finanzministerium und Unternehmerverbände sind bis zu einer nächsten Sitzung am 8. Dezember für jeden Vorschlag dankbar. Doch wenn die Regierung, anders als bei der Kompensation der Mindestlohnerhöhung, keine Patronatsbeiträge zur Sozialversicherung übernehmen, sondern Steuern nachlassen will, dürfte es wiederum zu einem Umverteilungseffekt kommen.

Denn bei der Vorstellung der „Sparpisten“ der Regierung im Frühjahr hatte Finanzminister Luc Frieden geschätzt, dass 80 Prozent der Betriebe, vor allem Klein- und Mittelbetriebe, keine Steuern zahlen. So dass am Ende nur eine Minderheit der Unternehmen die Kosten einer Indextranche kompensiert bekommen könnten, aber alle die Kosten zu tragen haben. Gleichzeitig sind es Betriebe, die am meisten unter der Krise gelitten haben, die in den nächsten Jahren kaum oder keine Steuern zahlen; für sie stellen steigende Lohnkosten aber eine besondere Anstrengung dar. Zudem sind es nicht zwangsläufig die arbeits- und damit lohnintensivsten Betriebe, die am meisten von Steuernachlässen profitieren würden.

Romain Hilgert
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