Ganz vorsichtig begann am Montag die Debatte um den Tiers payant

Nicht gegen den Kassenarzt

Die Petitionärin Jill Sterba und Carlos Pereira vom OGBL in der Abgeordnetenkammer
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 02.03.2018

„Vergessen Sie den Willen des Volkes nicht!“ Das war das Schlusswort von Petitionärin Jill Sterba an Sozialminister Romain Schneider (LSAP) und die Abgeordneten nach der Anhörung zur Petition mit der laufenden Nummer 922 am Montag im Parlament. Mit dem am 8. Dezember eingereichten Vorschlag, das allgemeine Drittzahlerprinzip, den Tiers payant généralisé, für Arztleistungen einzuführen, hatte Sterba einen Nerv getroffen. 7 165 „validierte“ Unterschriften unter der Online-Petition wurden am Ende gezählt. Um sie vom Petitionsausschuss der Kammer öffentlich diskutieren zu lassen, hätten schon 4 500 gereicht.

Aber falls es der Wille des Volkes ist, in Zukunft bei jeder Arztkonsultation und jeder Behandlung durch den Arzt nur die Patienten-Selbstbeteiligung zu bezahlen – plus eventuelle Zuschläge für convenances personnelles –, während der Großteil der Rechnung von der CNS als „Drittzahler“ direkt übernommen würde, dann hat sich bislang nur eine Minderheit der Vertreter des Volkes diesen Willen zu eigen gemacht. Lediglich LSAP, Grüne, Linke und ADR erklärten am Montag unumwunden, die Petition zu unterstützen. Der gesundheitspolitische Sprecher der CSV-Fraktion, Jean-Marie Halsdorf, nannte den Tiers payant généralisé zwar „eine Idee, die uns sympathisch ist und über die ohne Apriori diskutiert werden sollte“. Er meinte aber, man müsse berücksichtigen, dass die Medizin sich weiterentwickelt hat und in Luxemburg freie Arztwahl und Therapiefreiheit gelten. Ein politisches Bekenntnis zum Tiers payant généralisé war das nicht.

Mutiger war die DP, zumindest am Montag. Da hatte ihr Abgeordneter Edy Mertens erklärt, „wir sind gegen den Tiers payant généralisé, verschließen uns aber einer Diskussion nicht“. Einen Tag später antwortete Fraktionspräsident Eugène Berger auf die Frage des Land, ob das Wählerstimmen kosten könnte, die Haltung der DP müsse „differenzierter“ verstanden werden, und stellte für den gestrigen Donnerstag eine Pressekonferenz in Ausicht: „Dort werden wir unsere Position und unsere Vorschläge präzisieren.“ Am Mittwoch sagte Berger die Konferenz aber wieder ab. Die DP-Fraktion ziehe es vor, Presseanfragen „individuell“ zu beantworten.

Gegenüber dem Land gab Berger sich Mühe, eine Art dritten Weg zu beschreiben: Dass das Drittzahlerprinzip beim Arzt „obligatorisch“ wird, wolle man nicht. Vorstellen könne die DP sich aber die Einführung einer „Karte mit Chip“, die sowohl mit der CNS als auch mit dem Bankkonto des Patienten „vernetzt“ wäre. Über sie könnte der Kassenanteil der Arztkosten direkt bei der CNS eingereicht werden. Was der Patient zu zahlen hätte, würde auf der Karte gesammelt und am Monatsende im Block vom Bankkonto abgebucht wie eine Kreditkartenschuld. Weil Berger sich vorstellen kann, dass „über kurz oder lang jeder so eine Karte benutzt“, räumte er ein, dass dann kaum ein Unterschied zum Tiers payant généralisé bestünde. Aber: Nirgendwo soll geschrieben stehen, dass die Karte benutzt werden muss. „Man wird die Freiheit haben, zu sagen, wir machen es wie früher.“ Diesen Vorschlag werde die DP-Fraktion Sozialminister Romain Schneider (LSAP) unterbreiten.

Mit einer IT-Lösung innovieren, aber dem Arzt nichts Obligatorisches auferlegen zu wollen, beziehungsweise den Tiers payant généralisé zwar „sympathisch“ zu finden, aber darüber erst einmal nur zu diskutieren, illustriert das Dilemma, in dem DP und CSV stecken. Natürlich haben sie die Zahl der Unterschriften unter Petition 922 zur Kenntnis genommen und wollen sie gerade in einem Wahljahr nicht ignorieren. Andererseits sind die Beziehungen beider Parteien zum Ärzteverband AMMD besonders eng. Der führt seit vergangener Woche eine Kampagne gegen den Tiers payant généralisé. An die Adresse der Patienten wird gewarnt, er führe in die „Staatsmedizin“ und sei sozusagen gesundheitsschädlich, weil die CNS als „verlängerter Arm der Politik“ dann zu „sparen“ versuchen werde. Dem Sozialminister hat die AMMD schon am 19. Januar per Brief versichert, sich gegen den Allgemeinen Drittzahler „mit allen Mitteln“ zu wehren.

Natürlich fragt sich, warum. Weshalb es für Ärzte eine Zumutung wäre, nur den kleineren Teil der Rechnung vom Patienten bezahlt zu erhalten und den großen Rest von der CNS. Für die Labors, die Apotheken, die Kinesitherapeuten und die Spitäler – aber ohne Arztleistung – gilt der Tiers payant immerhin. Und in bestimmten Bereichen ist er auch für Arztleistungen obligatorisch: etwa für verschiedene Leistungspauschalen in psychiatrischen Tageskliniken, für Pauschalen im Rehazenter oder für Leute, die vom Sozialamt als anspruchsberechtigt für den Tiers payant social erklärt wurden.

Fakultativ ist der Drittzahler im Krankenhaus. So steht es seit 1993 in der Konvention, die der Ärzteverband mit der CNS-Vorläuferin UCM, der damaligen Krankenkassenunion, abschloss: Rechnungen für Klinikpatienten kann der Arzt direkt an die Kasse schicken, wenn der Patient länger als drei Tage im Spital liegt oder wenn der Betrag auf der Rechnung 100 Euro überschreitet. Für ambulante Patienten, die im Spital eine Dialyse, eine Chemo- oder eine Strahlentherapie erhalten, kann er das ebenfalls tun. Aber: Er muss nicht.

Zu müssen, wäre für die AMMD der Casus belli. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie haben mit dem Prinzip und der Tradition zu tun, aber auch mit Geld. Und die Zusammenhänge sind politisch. Sie neu festlegen zu wollen, würde nicht nur viel Mut erfordern, sondern auch eine klare Vorstellung, wie das Luxemburger Gesundheitswesen funktionieren soll.

Aus Prinzip und Tradition hat der Ärzteverband ein Problem mit dem Tiers payant généralisé, weil der Arzt der Verschreiber „im System“ ist, vor der Apotheke, dem Labor und dem Kiné kommt und ohne ärztliche Entscheidung auch im Spital nichts läuft. Traditionell wiederum wurde das Drittzahlerprinzip früher gar nicht selten angewandt: Wer dieser Tage mit älteren Ärzten spricht, erfährt, das sei in den 1970-er und 1980-er Jahren „sehr oft“ der Fall gewesen. Vor allem an die damalige Arbeiterkrankenkasse seien viele Drittzahler-Rechnungen gegangen: aus den Kliniken im Süden und im Norden fast immer, aus Stater Spitälern zum großen Teil. Auch von ambulanten Patienten sei oft nicht verlangt worden, umfangreiche Rechnungen vorab zu begleichen, und bei Hausbesuchen hätten die Ärzte die Rechnung ebenfalls häufig an die Kasse geschickt. Leider gibt es darüber keine objektive Geschichtsschreibung. Auf jeden Fall aber war der Tiers payant damals fakultativ und unterlag der Einschätzung des Arztes.

Doch so sympathisch das Bild von dem mit der pekuniären Lage der Patienten mitfühlenden Mediziner auch ist: Es passt nicht gut zu einer Sozialversicherung, die allen dieselben Rechte garantiert. Welche das im Krankheitsfall sind, legte 1992 eine große Krankenkassenreform fest, was sie bis heute historisch macht. Aber eventuell – leider lässt sich das nicht anhand öffentlich verfügbarer Zahlen nachvollziehen – gab es vor der Reform mehr Tiers payant durch die Ärzte als danach: Der OGBL wollte bereits 1992 den Tiers payant généralisé und setzte sich über die Arbeiter- und die Privatbeamtenkammer dafür ein. Die damalige CSV-LSAP-Regierung wollte ihn lediglich für stationär behandelte Klinikpatienten obligatorisch machen – zunächst für alle, dann als Kompromissangebot an die AMMD für Patienten, auf deren Rechnung mehr als 1 000 Franken zum Indexstand 100 gestanden hätten. Die AMMD antwortete darauf mit Ärztestreiks, nicht zuletzt, weil der verbindlicher gemachte Tiers payant im Gesetz verankert werden sollte. Am Ende gelangte der Drittzahler lediglich in die Konvention zwischen AMMD und Kasse – und wurde fakultativ für Arztrechnungen im Krankenhaus ab 4 000 Franken, ansonsten aber weitgehend verboten. Interessanterweise aber wandten viele Ärzte den Tiers payant vor allem für Arbeiter weiterhin an; erst ab 2002 bestand die UCM darauf, der „flou artistique“ müsse ein Ende haben.

Die Verhältnisse heute über den Tiers payant généralisé maximal verbindlich zu machen, wäre möglich. Sofern sich entweder AMMD und CNS einigen, das in ihrer Konvention festzuhalten, oder die Regierung es durch eine Gesetzesänderung oktroyiert. Aber im Luxemburger Gesundheitssystem herrscht ein fragiles Gleichgewicht. Jedem Krankenversicherten ist der Zugang zu denselben Leistungen garantiert, freie Arztwahl auch. Die Finanzierung erfolgt paritätisch aus Beiträgen; der Staat schießt einen Fiskalanteil zu. Der Arzt genießt Verschreibungs- und Therapiefreiheit. Damit nichts aus dem Ruder läuft, sind die Leistungsanbieter mit der Kasse konventioniert. Jeder Arzt wird automatisch und obligatorisch Kassenarzt und kann nur in Rechnung stellen, was in der für alle Mediziner gültigen Gebührenordnung steht. 1992 wurde das auch als Schutz und Einkommensgarantie für die Ärzte verkauft.

Doch es lässt sich schwerer begründen, seit sich in der EU ein grenzüberschreitender Gesundheitsmarkt bildet. Weil Kassenärzte im Ausland privat hinzuverdienen können, dürfen Luxemburger Mediziner Zuschläge für convenances personnelles erheben und im Spital für die „Erste-Klasse“. Doch dieses Stück Privatmedizin, das klein genug ist, dass man es nicht so nennen muss, ist unter Druck. Die AMMD stellt nicht zu Unrecht fest, Kassenärzte im Ausland hätten mehr Zusatzverdienstmöglichkeiten und Luxemburger Patienten, die sich privat im Ausland behandeln lassen, nähmen das hin. Zu allem Überfluss sind die Gebührenordnungen für die Luxemburger Ärzte und Zahnärzte veraltet und lückenhaft. Dadurch nimmt, wie der CNS-Präsident vor drei Wochen gegenüber dem Land feststellte, die Abrechnungs-Anarchie zu: Ärzte würden irgendwelche Leistungen zusätzlich in Rechnung stellen, sie als „CP“ deklarieren oder Tarife willkürlich erhöhen. Unter einem Tiers payant généralisé ginge das nicht, fehlerhafte Rechnungen würde die CNS ablehnen. Das ist der Geld-Aspekt des Widerstands der AMMD gegenüber dem verallgemeinerten Drittzahler.

Dem Sozialminister ist das klar. Er weiß auch, dass eine neue Ärzte-Gebührenordnung, die in Arbeit ist, vor den Wahlen nicht mehr fertig wird. Deshalb hütete er sich am Montag zu sagen, den Drittzahler per Gesetzesänderung einzuführen, sei auch möglich. Als er das am 3. Januar im RTL-Radio erklärte, warnte die AMMD prompt, er sei dabei, eine „rote Linie“ zu überschreiten, und verlangte, für die Ärzte „umgehend“ die Möglichkeit zu schaffen, Zusatzleistungen in einem ähnlichen Umfang anbieten zu können wie die Zahnärzte das mit dem „CP8“ dürfen. In der angespannten Lage machte Romain Schneider mit dem Petitionsausschuss lediglich ab, bis Ostern zu „sondieren“, ob der Drittzahler per Konvention zu haben wäre. Weil er sich denken kann, wie die Sondierung ausgeht, kündigte er wenig später an, der Drittzahler komme ins LSAP-Wahlprogramm.

Dass er unter der nächsten Regierung eingeführt werden könnte, ist nicht sicher. Wer das wollte, könnte es erstens nur mit einer überarbeiteten Gebührenordnung in der Hinterhand tun. Zweitens müsste entweder ein politisches Plädoyer für jene regulierte Gesundheitsversorgung gehalten werden, die die AMMD „Staatsmedizin“ nennt, und ein schlüssiges Programm dafür entwickelt werden, wie freiberufliche Ärzte als Pflicht-Kassenärzte dazu passen sollen. Oder die Kassenpflicht der Ärzte würde abgeschafft und der CNS freigestellt, wen sie unter Vertrag nimmt – und dann unter dem Tiers payant généralisé. Das würde zu der Gesetzesänderung passen, die die vorige Regierung 2011 vornahm, ohne das an die große Glocke zu hängen: Auf ein Urteil des EU-Gerichtshofs hin wurde ins Krankenkassengesetz geschrieben, die Vorabbezahlung von Rechnungen durch die Patienten sei die Regel, der Tiers payant die Ausnahme. Der Staatsrat meinte damals, Luxemburger Ärzte könnten den Tiers payant durchaus als „Opportunität“ ansehen, ihre „Kunden an sich zu binden“. Mediziner im Ausland könnten mit dem Drittzahler nicht winken. – Gut möglich, dass das nur so sieht, wer freiwillig CNS-Arzt ist.

Peter Feist
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