Das Kooperationsprojekt klingt vielversprechend: Für En vertu de…, eine Uraufführung, hat der Komponist Eugene Birman Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention und anderer Abkommen vertont, die ein Solist vorträgt. Anschließend schlüpft dieser Interpret (Michel de Souza) in die Hauptrolle von Viktor Ullmanns Kammeroper Der Kaiser von Atlantis, die dieser 1943/44 im KZ Theresienstadt komponierte.
„Der Abend lebt von den Spannungen und Resonanzen zwischen der bedeutsamen Nüchternheit der EU-Texte und Ullmanns Allegorie eines Kriegs aller gegen alle, in dem der Tod beschließt, seine Dienste zu verweigern“, heißt es in der Ankündigung. Zugleich beleuchte Regisseur Stéphane Ghislain Roussel die Brüchigkeit unserer politischen Verhältnisse und stelle auf ebenso provokative wie raffinierte Weise die Beziehung zwischen Demokratie und Diktatur infrage.
Die Artikel der Menschenrechtskonvention weiß Michel de Souza (Bariton) eindrucksvoll zu interpretieren. Im historischen EU-Gebäude, dem Hémicycle, sitzen die ZuschauerInnen in den Rängen und lauschen ehrfürchtig den vorgesungenen Artikeln. Doch recht schnell erschöpft sich der Effekt und es wirkt repetitiv.
Der zweite Teil des Abends findet im Grand Théâtre statt. Dort inszeniert Stéphane Ghislain Roussel Der Kaiser von Atlantis – eine Kammeroper (Spiel in einem Akt) von Viktor Ullmann, der gemeinsam mit Peter Kien auch das Libretto verfasste. Beide waren zum Zeitpunkt der Entstehung im Ghetto Theresienstadt inhaftiert, kein Massenvernichtungslager wie Auschwitz, es galt vielmehr als „Vorzeigelager“, das den Nationalsozialisten seiner Zeit vor allem zu Propagandazwecken und als Zwischenstation prominenterer Opfer in die Vernichtungslager diente. Ihr Werk wurde zwischen 1943 und 1944 geschaffen, jedoch erstmals 1975 in der Oper in Amsterdam uraufgeführt.
Im Grand Théâtre nehmen die ZuschauerInnen quasi an einer offenen Probe teil und wohnen so der Entstehung der Oper bei. Langsam öffnet sich die Szenerie und die Vierte Wand verschwindet ... Das Publikum blickt auf ein Bühnenbild aus Stacheldrähten und Holzbaracken (Peggy Wurth), davor auf die zusammengekauerten SchauspielerInnen, die an ihren Lumpen einen gelben Judenstern tragen.
Das OPL-Orchester (Orchestre de Chambre du Luxembourg) steht linker Hand auf der Bühne – die beeindruckende Kammermusik unter Anleitung von Corinna Niemeyer ist für eine Oper jedoch erstaunlich wenig präsent und rückt vor dem Theaterspiel leider auch akustisch in den Hintergrund.
Die Bühne ist gespickt mit surrealen Elementen und vermittelt Armut. Die SchauspielerInnen hocken meist unbeteiligt am Bühnenrand, präsent(er) der Kaiser Overall, ebenfalls eindrucksvoll von Michel de Souza verkörpert. Neckisch locken der Tod (Julien Ségol) und Harlekin (Benjamin Alunni), daneben Skelette; in eine Kabine wird am Ende Gas hineinströmen ... Ein buntes Spiel, das streckenweise mitzureißen und sogar zu bezaubern vermag. Doch Bühnenbild und Kostüme wollen das Grauen vermitteln, indem auf Lager-Impressionen gesetzt wird. Die Inszenierung verstärkt diesen störenden Eindruck durch zu viel Pathos und ist nicht frei von Klischees.
Der künstlerische Ansatz Stéphane Ghislain Roussels, der auf den Gegensatz der beiden Orte und Genres setzt, die hier aufeinanderprallen (und der im begleitenden Heft erklärt, dass es sein explizites Ziel war, die Musikformen infrage zu stellen), funktioniert nur bedingt. Denn vor allem die Operninszenierung im Grand Théâtre bleibt recht konventionell, wirkt zuweilen gefällig und findet keine wirklich ergreifenden, eigenen Bilder. Die Reihenfolge, in der die beiden Vorstellungsteile präsentiert werden, folgt zudem nicht der historischen Realität, war die Europäische Menschenrechtskonvention doch eine Antwort auf den Zivilisationsbruch.
Dennoch kann sich für das Publikum aus dem luxemburgischen Bildungsbürgertum (es bedarf eines Sprachverständnisses des Französischen, Englischen und Deutschen) ein behaglich pädagogisches Gefühl einstellen, den Verbrechen den Triumph der Demokratie und ein Werte-Europa entgegengesetzt zu haben. Eine Bestätigung für all jene, die sich schon immer auf der richtigen Seite wähnten.