Sind Krebs und Parkinson verwandt? Könnten Alterserkrankungen Kindeserkrankungen sein, von denen etwas zurückblieb? Gespräch mit Rudi Balling, Direktor des Luxembourg Centre for Systems Biomedicine an der Universität, das nächstes Jahr zehn wird

„Wir wollen allgemeine Mechanismen verstehen“

Porträt Rudi Balling, Direktor des Luxembourg Cetre for Systems Biomedicine
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 30.11.2018

d’Land: Professor Balling, was ist System-Biomedizin?

Rudi Balling: Die Medizin war tausende Jahre lang sehr systemisch und sah die Patienten ziemlich ganzheitlich an. Dann kam die Zeit des Auseinanderpflückens, auch in der Biologie: Man betrachtete einzelne Organe, einzelne Zellen, schließlich einzelne Gene. Erst in den letzten zehn, zwanzig Jahren wurde erkannt, dass alles viel komplexer ist. Organismen sind selbstorganisierende emergente Systeme, und sie stehen mit übergeordneten Systemen im Austausch. Daraus erwuchs eine Systemmedizin. System-Biomedizin ist die ihr vorgeschaltete Forschung über das, was in der Medizin noch nicht angekommen ist.

Das Institut, das Sie leiten, behauptet einen besonderen, interdisziplinären Ansatz zu haben. Aber was Sie sagen, hört sich an, als könne man Biologie, die der Medizin zuarbeiten will, kaum anders betreiben.

Es besteht ein Spannungsfeld zwischen breit und tief. Der Forschungsansatz in der Biologie der letzten zehn, zwanzig Jahre war einer von Wahrscheinlichkeiten und Abweichungen: Man untersucht tausend Leute, die eine bestimmte Genmutation haben, etwas bestimmtes essen, morgens zur selben Zeit aufstehen et cetera, und die häufiger die Krankheit X haben. Aber ist wirklich die Genmutation kausal wichtig für die Krankheit? Oder gibt es noch eine andere Ursache, die mit der ersten nur zufällig korreliert ist, weil alle betrachteten Personen morgens zur selben Zeit aufstehen? Um sagen zu können, was kausal ist und nicht nur wahrscheinlich, muss man einerseits die Einzelbestandteile des Organismus intensiv studieren. Doch was eine Einzelkomponente mir sagt, erklärt nicht, wie sie in einem System funktioniert, in einem Netzwerk. Dort gilt das allgemeine Prinzip der Emergenz: Aus dem Zusammenwirken von Einzelteilen können neue Eigenschaften entstehen. Deshalb sind zusätzlich zur intensiven Untersuchung der Einzelbestandteile mathematische Modelle nötig, um das Zusammenwirken von Organen, Zellen oder Genen modellieren und simulieren zu können.

Wie lässt sich das übertragen auf den Forschungsschwerpunkt des Luxembourg Centre for Systems Biomedicine: neurodegenerative Erkrankungen und vor allem Parkinson?

Lassen Sie mich vorausschicken, dass wir uns neben Parkinson auch mit Krebs, Diabetes und anderen chronischen Erkrankungen befassen. Ich habe das LCSB nie als ein reines Parkinson-Institut gesehen, sondern als interdisziplinäres Forschungszentrum, das sich ein system-biomedizinisches Verständnis aufbauen will und sich dazu einen Schwerpunkt ausgesucht hat, Parkinson. Wir fanden ihn nach langwierigem Sortieren von Wissen, das es schon gab: atomar, molekular, zellulär, organbezogen. Dann epidemiologisch: Wie ist die Zahl der Patienten, die Alters- und Geschlechterverteilung und so weiter. Und schließlich genetisch, das war eine große Frage. Wir haben all das nicht nur für Parkinson, sondern auch für Alzheimer sehr systematisch gemacht. Und sahen zum Beispiel, dass es 15 Gene gibt, die man als familiäre Parkinson-Gene bezeichnen kann. Bei Alzheimer gibt es nur drei. Ich dachte, der Einstieg in die Erforschung von Parkinson sei leichter, wenn man von 15 Genen ausgehen kann.

War er leicht?

Er klappte recht schnell. Denn von den 15 Genen bestimmen zwei den Stoffwechsel von Nervenzellen, zwei andere regeln die „Müllabfuhr“, die alte Proteine wegräumt, und zwei weitere die chemisch-elektrische Kopplung der Nervenzellen, über die Botenstoffe transportiert werden. Wieder andere Gene stehen für Entzündungsreaktionen. Allein aus der Genetik bezogen wir vier, fünf eventuelle Parkinson-Untergruppen. Das war ein schneller Einstieg auf der Basis von dem, was andere schon erforscht hatten. Spannend war Folgendes: Es gibt einen berühmten Artikel, The Hallmarks of Cancer, eines der meistzitierten Papers in der Biomedizin-Forschung. Ich nahm es und verglich es mit dem, was wir an potenziellen Parkinson-Untergruppen gefunden hatten. Und fand 80 Prozent Übereinstimmung.

Das heißt, Krebs und Parkinson könnten verwandt sein?

Beide können offenbar entzündungsgetrieben sein. Oder der Stoffwechsel der Zellen ist verändert, und so fort. Da kam bei uns das Gefühl auf, wir könnten in einen Mechanismus reinschauen: Bei Krebs werden zu viele Zellen produziert, bei Parkinson nicht genug oder sie sterben ab. Das ist natürlich ganz gegensätzlich, aber möglicherweise besteht ein Schalter, der die Entwicklung in die eine oder die andere Richtung gehen lässt. So definierten wir für uns die Hallmarks of Parkinson’s Disease und gaben uns Forschungsthemen. Wir haben anschließend zum Beispiel gefunden – das ist noch nicht publiziert, aber sehr spannend –, dass wahrscheinlich in Entzündungszellen ein Schalter liegt, der den Zellstoffwechsel beeinflusst. Anderes Beispiel: Wir fanden ein Protein aus einem familiären Parkinson-Gen, das andere Forscher als Krebs-Gen beschrieben haben, wieder andere als ein Diabetes-Gen. Nun sehen wir, dass es auch an Entzündungen und Infektionen beteiligt ist. Das zeigt, dass man diese Vorgänge als System betrachten muss. Ich glaube, was wir dabei sind herauszufinden, wird relevant für die Allgemeinmedizin und die Allgemeinbiologie.

Als das LCSB ab 2009 im Aufbau war, waren Sie viel in den Medien. Sie nannten das Institut Teil einer Bewegung hin zur „personalisierten Medizin“. Meinen Sie, dass die Medizin eines Tages tatsächlich personalisiert sein wird? Mal abgesehen davon, dass wahrscheinlich nicht wenige Ärzte schon heute sagen werden, sie behandeln ihre Patienten als Individuen?

Die System-Biomedizin erlaubt es, immer mehr Untergruppen auf der Basis der zugrunde liegenden Mechanismen und nicht nur aufgrund klinischer Symptome zu bilden. Früher kannte man nur eine Form von Alzheimer, die hieß „senile Demenz“. Heute kennt man an die zwölf verschiedene neurodegenerative Erkrankungen. Sie unterscheiden sich zum Beispiel darin, dass in unterschiedlichen Hirnregionen Proteine miteinander verkleben. Je nachdem wo, gibt es unterschiedliche Ausfallerscheinungen. Geht was schief im Vorderhirn, erleide ich Gedächtnisverlust, geschieht das in den Basalganglien, die die Motorik steuern, kommt es zu Parkinson. Doch das Prinzip, Proteine verkleben, ist dasselbe, nur an einem anderen Ort und vielleicht auch zu einer anderen Zeit. Vielleicht ist die eine Entwicklung durch toxische Stoffe von außen mitgesteuert, die andere vielleicht durch den Lebensstil. Die Frage ist, wie viele Untergruppen nötig sind, um einen Patienten adäquat behandeln zu können. Ihn runter zu diagnostizieren bis ins letzte Atom, wäre nicht nur Ressourcenverschwendung, sondern völlig irrelevant.

Wichtiger ist die Prävention: Ich glaube, eines Tages wird jeder sein Genom sequenzieren lassen. Schaut man für jedes der 20 000 Gene nach, für die beschrieben wurde, was bei einer Mutation häufiger passieren kann, kann man der Person sagen: Das bringt Sie, statistisch gemittelt, ins obere Perzentil einer bestimmten Risikogruppe. Was nicht heißt, dass Sie diese Krankheit bekommen werden, aber das Risiko ist erhöht. Das könnte eine Motivation sein, individuell vorzubeugen: durch gesündere Ernährung, durch Sport und so weiter.

Dann ist die Botschaft der hochmodernen System-Biomedizin an die Leute am Ende die ganz simple: Versucht, so gesund wie möglich zu leben?

Das ist eine der ganz trivialen Erkenntnisse. Was wir in den Krankenhäusern bei älteren Patienten sehen, sind vor allem Zivilisationserkrankungen: Übergewicht, Schlaganfall, Herz-Kreislauf-Probleme, Krebs, neurodegenerative Erkrankungen. Zunehmend auch Autoimmunerkrankungen und neuropsychiatrische, etwa Depression oder Schizophrenie. Bemerkenswerterweise haben sie fast alle eine entzündliche Komponente. Das ist ein ganz heißes Thema in der Forschung. Manchmal liegt der Mechanismus auf der Hand: Wer raucht, triggert immer wieder eine Entzündung. Die wird systemisch, kann Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs hervorrufen. Andere Zusammenhänge sind komplizierter. Zum Beispiel ist die Frage offen, ob einige neurodegenerative Erkrankungen, einschließlich Parkinson, eine Autoimmun-Komponente haben. Oder die Wirkung von Stress: Patienten mit Posttraumatischem Stresssyndrom haben eine Entzündungsreaktion im Hirn. Sozioökonomischer Stress hat wahrscheinlich ähnliche Auswirkungen. Da gelangt man von der Biomedizin plötzlich zu sozioökonomischen Ungleichheiten.

Und alles scheint sich in Entzündungen zu äußern.

Das ist eine Dynamik, die wir verstehen möchten. Ich glaube, ein großer Teil der Alterserkrankungen könnten „Kindeserkrankungen“ sein, die sich erst im Alter manifestieren: Wir vermuten, dass Einflüsse, die man als junger Mensch erleidet – zum Beispiel eine Infektion, ein Trauma, ein Stress –, zwar ausheilen, aber womöglich etwas davon übrig bleibt, vielleicht „schlafend“. Die akute Abwehrreaktion des Körpers wäre dann eine Entzündungsreaktion gewesen, die sich aber vielleicht 20 oder 30 Jahre später als chronische Alterserkrankung manifestiert.

Sie haben vor kurzem im Rahmen eines Sabbatical sechs Monate lang am Scripps-Institut von Eric Topol in Kalifornien hospitiert. Was genau macht dieses Institut?

Es hat etwa 100 Mitarbeiter in drei Abteilungen, darunter eine für digitale Medizin. Sie versucht, neue Sensoren und Messgeräte auszutesten – einerseits, wie zuverlässig sie sind und inwiefern sie von den Leuten akzeptiert werden, andererseits, welche Informationen man daraus ableiten kann. Ermittelt man zum Beispiel den Glukosespiegel im Blut nicht nur einmal jährlich in einer großen Blutanalyse, sondern ständig und kann einen individuellen „Glukotyp“ bestimmen – was sagt mir das?

Könnten die Leute nicht besessen von ihrem Körperzustand werden, wenn sie ein permanentes Monitoring mit Sensoren und Smartphone-Apps an sich vornehmen?

Ich denke, dass diese Entwicklung technologisch kommen wird. Vermutlich werden in der ersten Welle der Anwendung viele Leute aufgeregt zum Arzt laufen, wenn sie Werte außerhalb des Normbereichs bei sich sehen. Dass der Arzt dann Parameter behandelt statt den Menschen, muss verhindert werden. Aber die Begeisterung, so genannte „Real World Data“ zu haben, teile ich total. Messe ich meinen Blutdruck ständig und erfasse, wie er sich beim Treppensteigen verändert oder wenn ich mit Ihnen in diesem Interview sitze, ist das eine ganz andere Information, als wenn das nur gemacht wird, wenn ich mal zum Arzt gehe.

Hatten Sie dieses Sabbatical vor allem für sich gemacht oder für das LCSB?

Das kann man nicht trennen. Ich bin jetzt 65, in dem Alter macht man eigentlich kein Sabbatical mehr. Aber die Universität hat vor kurzem mein Mandat als LCSB-Direktor um weitere drei Jahre verlängert. Als sich das abzeichnete, fragte ich mich, was ich in den drei Jahren noch mache, und die Uni-Leitung fragte mich, was ich für das LCSB empfehlen würde. Meine Empfehlung war, auch vor dem Hintergrund der politischen Entscheidung, eine Mediziner-Ausbildung im Land einzurichten: Lasst uns aber ein Medizinstudium aufbauen, das eine neue Generation von Ärzten ausbildet. Mediziner, die Smart Devices nutzen, die datenkompetent sind und künstlicher Intelligenz gegenüber aufgeschlossen. Da habe ich an Eric Topols Institut gedacht und schrieb ihn an. Ich schlug der Uni vor, auch das LCSB in diese Richtung weiterzuentwickeln und zu helfen, das in die gesamte Luxemburger Forschungslandschaft einzubringen. Da war klar: Ich muss selber nochmal in die Lehre gehen. Jetzt habe ich noch drei Jahre, das erworbene Wissen weiterzugeben.

Die Uni hat sich in ihrem neuen Vierjahresplan vorgenommen, bis 2021 „Gesundheit“ allgemein als Schwerpunkt auszubauen. Sogar darüberhinaus, mit Blick auf 2030 und 2040. Geht das auf Sie zurück?

Das LCSB war dafür sicher ein Impulsgeber, aber nicht der einzige. Ein Vierjahresplan entsteht in Zusammenarbeit mit allen Fakultäten und interdisziplinären Zentren. Das Querschnittsthema „Gesundheit“ ergab sich fast von alleine. Es wurde von der Gruppe, die an sozioökonomischen Ungleichheiten forscht, genauso vertreten wie von den klinischen Psychologen. Es interessiert die Juristen, zum Beispiel was den Schutz der Privatsphären angeht. Es interessiert die Physiker – auf einer außerordentlich spannenden Ebene, wo sie der Grundlagenforschung des LCSB begegnen und mit uns Systemzusammenhänge untersuchen könnten, wie ich sie vorhin beschrieben habe. Wie das Querschnittsthema „Gesundheit“ strukturiert werden soll, wird derzeit diskutiert. Ich meine, damit wird sich in den kommenden fünf bis zehn Jahren entscheiden, ob es der Universität gelingt, einen weiteren großen Sprung nach oben zu machen.

Wie hatten Sie es ab 2009 geschafft, die LCSB-Mitarbeiter zu rekrutieren? Das Institut entstand ja ganz neu und Luxemburg war auf diesem Gebiet ein ziemlich unbeschriebenes Blatt.

Das war eine extrem personalisierte Rekrutierung, die mich sehr aufwühlte. Anfangs wollte ich es wie Kai Simons machen. Er hat in den Neunzigerjahren in Dresden das Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik neu aufgebaut und war vorher Forschungskoordinator am Europäischen Labor für Molekularbiologie in Heidelberg. Er setzte mit einem Schlag drei Abteilungsleiter mit je 20 Mitarbeitern von Heidelberg nach Dresden um, und nur Monate später war das neue Institut am Laufen. Ich hatte im Mai 2009 zugesagt, LCSB-Direktor zu werden, fing im September an. In den Monaten dazwischen war ich in Boston am M.I.T., auch für ein Sabbatical. Ich versuchte dort, mein Netzwerk zu aktivieren, und habe drei, vier Koryphäen angefunkt: Wollt ihr mit mir in Luxemburg ein neues Zentrum hochziehen? Ich bekam nur Absagen.

Hatten Sie damit gerechnet?

Nun ja, ich hatte im Grunde eine Terra incognita zu bieten. Und nicht mal ein Gebäude. Jeder von diesem Kaliber hatte 20 bis 50 Mitarbeiter und sagte: „Wenn ich die mitnehmen kann, mache ich es vielleicht“, aber wo hätten wir die untergebracht? Also schaltete ich um, noch während ich in Boston war. Dort waren viele deutsche Postdocs, und nicht die schlechtesten. Ich war mit ihnen in den Vorlesungen, ich habe ja am M.I.T. Student gespielt. Es gelang mir, einige von ihnen als Gruppenleiter zu gewinnen. So fing alles an. Das war für diese jungen Leute nicht schlecht: vom Postdoc weg hier eine Gruppenleiterstelle mit einer guten Ausstattung zu bekommen. Aber Karsten Hiller zum Beispiel, der erste von ihnen, hat noch auf dem Limpertsberg in einem Abstellraum begonnen. Diese Bereitschaft, nicht das gemachte Bett haben zu wollen, war bei allen da. Trotzdem war das für das LCSB ein hohes Risiko, denn bei jungen Leuten weiß man nicht, was man bekommt. Das kann ein Flopp sein – war es aber nicht, was uns betraf. Heute haben wir 230 Mitarbeiter.

Das LCSB entstand mit Hilfe des Institute for Systems Biology (ISB) in Seattle. Das war Teil der Biotech-Initiative von 2008, in der die damalige Regierung Partnerschaften mit US-Organisationen einrichtete. Ist der Kontakt zum ISB noch intensiv?

Eine Gruppe hat noch intensive Kontakte und publiziert mit dem ISB, aber das sind normale Kooperationsbeziehungen. Die Partnerschaft mit dem ISB war auf fünf Jahre ausgelegt. Ich hatte sie mir für zehn Jahre vorgestellt, aber schon nach drei Jahren waren wir so gut aufgestellt, dass ich fand, wir hätten genug gelernt und gäben dem ISB schon was zurück. Was ja schön ist. Es war von der Finanzverteilung her ziemlich asymmetrisch geworden; wir schafften es aber, einen Teil des Geldes freundlich wieder zurück nach Luxemburg zu lenken.

Wäre das LCSB ohne das ISB da, wo es heute ist?

Nein, das ISB war für uns essentiell. Aber der Wissenstransfer von Seattle nach Luxemburg war ziemlich teuer, und wir wurden früher erwachsen, als das ISB dachte. So entstand ein abnehmender Grenznutzen. Ich hätte das gerne mit weniger Geld gemacht und stattdessen mehr in andere Partnerschaften investiert. Zum Teil taten wir das später und haben diversifiziert.

Vor vier Jahren gründete das LCSB mit dem Luxembourg Institute of Health, dem Laboratoire national de Santé, der Integrated Biobank of Luxembourg und dem CHL ein Exzellenzzentrum Parkinson. Wie kommt das Projekt voran?

Sehr gut! Das wichtigste Resultat bisher ist die Parkinson-Kohorten-Studie, ein Programm, das so bekannt geworden ist, dass jemand mich mal gefragt hat, ob Parkinson ansteckend sei, denn man höre in Luxemburg so viel davon. Zum Glück liegt das an unserer Kommunikation und nicht an der Inzidenz der Krankheit. Über die Beteiligung der Krankenhäuser an der Studie haben wir dafür gesorgt, dass die Patienten sich treffen. Patienten wollen gehört werden, nicht nur Medikamente einnehmen, der Austausch mit Menschen, die dieselben Probleme haben, ist die halbe Therapie. Ich meine, das haben wir katalysiert. Das ist keine wissenschaftliche Entdeckung, aber wir haben ein Klima, ein Ökosystem geschaffen, durch das die Patienten sich nicht mehr so alleine fühlen. Ich würde das gern auch auf andere Krankheiten übertragen.

Wird die Kohorte dazu führen, die Diagnostik zu verbessern?

Das tut sie schon. Sie ist nun im vierten Jahr, der Verlängerungsantrag wurde gestellt, und ich gehe davon aus, dass sie im nächsten Jahr weitergeführt wird. Wir haben 600 Parkinson-Patienten und 600 gesunde Menschen in der Kohorte, das soll auf jeweils 800 wachsen. Jetzt werden Blutanalysen, Verhaltensanalysen und so weiter vorgenommen. Das ist alles anonymisiert, das geht nicht zurück an den einzelnen Patienten, die Daten aber können analysiert werden. Wir versuchen Früh-Indikatoren aufzustellen. Eine Stärke der Kohorte ist, dass nicht nur die klassische Parkinson-Erkrankung darin vertreten ist, sondern auch Parkinson-ähnliche, zum Teil seltene Erkrankungen. Diese Erweiterung des Spektrums gibt uns ein Alleinstellungsmerkmal weltweit. Wir analysieren besonders tief, die Patienten durchlaufen viele Tests, und da kommen richtig interessante Sachen raus.

Was denn zum Beispiel?

Der bisher spannendste Wissenschaftsbeitrag kommt aus dem Mikrobiom, der Riesenpopulation der Bakterien im Darm des Menschen. Es gibt ein so genanntes Prodromales Syndrom, das man schon zehn bis 20 Jahre vor einem Parkinson-Ausbruch erkennen kann. Es äußert sich in Verstopfungen und Schlafproblemen. 80 Prozent der Parkinson-Patienten hatten 20 Jahre vorher schon Symptome, sie waren nur unspezifisch: Wenn jemand schlecht schläft, heißt das ja nicht, dass er Parkinson bekommen wird. Aber von denjenigen, die Parkinson haben, haben 80 Prozent schlecht geschlafen; da waren die REM-Schlafphasen gestört, die Leute schlugen nachts um sich und lebten ihre Träume aktiv aus. Zusätzlich konnten sie nicht mehr richtig riechen. Das sind alles Botenstoff-Problematiken. Unser Kollege Paul Wilmes hat sich mit der Schlafklinik der Universität Marburg zusammengetan, sie haben sich dann das Mikrobiom von Gesunden und von Parkinson-Patienten angeschaut, und siehe da: Das Prodromale Syndrom lässt sich ablesen an Änderungen der Darmbakterien. Das wird sicher ein ganz wichtiges Thema für die nächsten Jahre. Es zeigt, wie wichtig das Zusammenspiel des Darms mit anderen Organen, wie dem Gehirn, für unsere Gesundheit sein kann.

Die Initiative, aus der auch das LCSB entstand, war 2008 eine vor allem wirtschaftspolitische. Der damalige Minister Jeannot Krecké hoffte, um das LCSB und die Biobank IBBL werde ein „Ökosystem“ aus Biotech-Firmen entstehen und auch aus dem Ausland würden Unternehmen nach Luxemburg kommen. Das hat sich so bisher nicht erfüllt, meinen Sie, dass es dazu noch kommt?

Ja, aber nicht in dem Bereich, der vor zehn Jahren mit dem Namen „Biotech“ versehen wurde. Ein wirtschaftlicher Return on Investment wird sich aus der Konvergenz von Medizin und IT ergeben. Wir haben mitgeholfen, dass da eine Bewegung entstand. Wir investierten zur Vorbereitung der Parkinson-Kohorte viel Arbeit in die Bioinformatik: Wie erfasse ich die Daten einer Patientenuntersuchung, so dass dort sowohl der Arztbericht drin steht, als auch genomische Untersuchungen und so weiter? In einer klassischen Patientenakte ist das nicht enthalten, das kann ich auch nicht auf Papier schreiben. Wie strukturiere ich das, wie versehe ich die elektronische Datenerfassung mit entsprechender Standardisierung, wie gleiche ich das auf internationale Nomenklaturen ab, die sehr verschieden sind? Nach einem Jahr war unser Team darin so gut und derart bekannt, dass das US-amerikanische National Institute of Health uns fragte: Könnt ihr unsere Genom-Daten mit speichern? Das tun wir seit zwei Jahren.

Dann kam Elixir, eine EU-Infrastruktur, wieder in Datenerfassung und -speicherung sowie in Analytik, und jetzt werden wir ein Data Hub. Das ist keine Entdeckung, aber eine Infrastruktur, die international immer mehr genutzt wird. Das bringt Aufmerksamkeit für Luxemburg, und ich glaube, es passt wunderbar in die Digitalisierungs-Strategie des Landes. Da konvergieren Digitalisierung und Medizin.

Zur Person

Rudi Balling (geb. 1953 in Daun in der Eifel) studierte Ernährungswissenschaften in Bonn und Pullman (USA), promovierte an der RWTH Aachen. Forschte Mitte der 1980-er Jahre in Toronto und wandte sich dort der Entwicklungsbiologie zu. Wechselte anschließend ans Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen. Habilitierte 1991 und wurde Leiter einer Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg. Leitete von 1993 bis 2000 das Institut für Säugetiergenetik am GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in München, wurde 1994 Professor an der RWTH Aachen und 1998 an der Technischen Universität München. Von 2000 bis 2009 war er wissenschaftlicher Geschäftsführer des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung in Braunschweig. Im September 2009 übernahm er die Gründungsdirektion des Luxembourg Centre for Systems Biomedicine.

Die Biotech-Initiative von 2008

Im Juni 2008 schloss die damalige CSV-LSAP-Regierung eine Partnerschaft mit drei US-amerikanischen Forschungseinrichtungen ab. Das Translational Genomics Institute aus Phoenix sollte in Luxemburg eine Biobank aufbauen, die von Blut- bis hin zu Genproben alles Mögliche sammelt, aufbereitet und der Forschung zur Verfügung stellt. Das Institute for Systems Biology in Seattle sollte beim Aufbau einer ähnlich gelagerten Einrichtung an der Uni Luxemburg helfen – so entstand das LCSB. Ein Partnership for Personalized Medicine schließlich, ebenfalls aus Seattle, sollte gemeinsam mit dem damaligen CRP-Santé (heute Luxembourg Institute of Health) Proteinmarker zur Früherkennung von Lungenkrebs entwickeln. Wenngleich das Vorhaben mit dem LCSB eine wissenschaftliche Komponente hatte, mit dem Lungenkrebsprojekt eine klinische und mit der Integrated Biobank of Luxembourg eine beide Bereiche unterstützende, war es vor allem wirtschaftspolitisch gedacht: Der damalige LSAP-Minister Jeannot Krecké hoffte, die heimische Wirtschaft in Richtung „roter Biotechnologie“, also Anwendungen für die Humanmedizin, zu diversifizieren. 140 Millionen Euro aus der Staatskasse wurden bereit-
gestellt, die Partnerschaft mit den US-Akteuren sollte fünf Jahre dauern. Kreckés Hoffnung war, Biobank und LCSB würden den Kern für ein „Ökosystem“ aus Biotech-Firmen bilden, die im Bereich der Diagnostik von Krankheiten neu entstehen oder nach Luxemburg übersiedeln.

Peter Feist
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