Von wegen Leichtgewicht: Die DP-Familienministerin steht vor einer Herkulesaufgabe, will sie neue Ziele umsetzen – und Ausgaben kürzen

Ins kalte Wasser

d'Lëtzebuerger Land vom 20.12.2013

„Ich fühle mich mehr als gebauchpinselt“, lautete der fröhliche Eintrag der frisch gebackenen liberalen Familienministerin Corinne Cahen, nachdem am vergangenen Freitag in der Wochenzeitung Woxx über sie ein zweiseitiges Porträt erschienen war. Unter dem Titel „Aus dem Schuhkarton“ wird der Self-made-Charakter Cahens betont und „der energische Eindruck“, den die ehemalige RTL-Journalistin und Unternehmerin bei der ziemlich hingerissenen Woxx-Journalistin offensichtlich hinterlassen hat.

Stehvermögen und Durchsetzungskraft wird Cahen brauchen können. Denn obwohl aus dem Familienministerium zwei große Posten herausgenommen wurden – die Jugend und die Kinderbetreuung –, ist das Ministerium in der Rue Emile Reuter ein ganz schön dicker Brocken. Unter ihrer Vorgängerin Marie-Josée Jacobs (CSV) war es mit rund 1,8 Milliarden Euro zum Ministerium mit dem zweitgrößten Gesamtetat herangewachsen, nach dem Sozialversicherungsministerium mit fast 2,5 Milliarden Euro.

Das liegt zum einen an den verschiedenen staatlichen Beiträgen zu den Familienzulagen, die mit rund 630 Millionen Euro zu Buche schlagen. Rechnet man die Beihilfen für Schulbücher, die Erziehungszulage, die Geburtenzulage und den Staatsbeitrag zum Kinderboni hinzu, summieren sich diese auf rund eine Milliarde Euro. Weitere Schwergewichte im Haushalt waren der Bereich der Jugend- und Erziehungshilfe mit rund 82 Millionen und die Kinderbetreuung. Letztere ist seit der Einführung der Dienstleistungsschecks mit rund 267 Millionen Euro einer der am rasantesten wachsenden Ausgabenposten im Staatsbudget.

Es wundert daher nicht, dass diese Bereiche aus dem Familienministerium herausgenommen und nun dem Erziehungsminister zugeschlagen wurden. Das hat auch mit der inhaltlichen Nähe zu tun zwischen so genannter formaler Bildung in der Schule entlang von Lehrplänen und nonformaler spielerischer Bildung in Kindergarten und Maisons relais. Aber nicht nur. Claude Meisch wollte zwar kein Finanzminister werden, aber indem er die Bereiche Jugend und Kinderbetreuung in seinem Mega-Ministerium vereint, wird er – und seine Partei, die DP – ganz entscheidend Einfluss auf die Ausgabenentwicklung des Staates nehmen können. Um nicht zu sagen: auf die Sparpolitik im Sozialwesen.

Um 1,5 Milliarden Euro, hat die neue Regierung versprochen, soll die Staatsverschuldung gesenkt, der Haushalt bis 2018 ausgeglichen werden. Und auch wenn sie noch nicht verraten hat, wie sie das schaffen will, ist klar, dass Blau-Rot-Grün in erster Linie auf der Ausgabenseite und da vor allem bei den Sozialausgaben den Rotstift ansetzen werden. Das hatten die drei Koalitionspartner jeder für sich schon in ihren Parteiprogrammen vor den Wahlen im Oktober deutlich gemacht. Stichwort: selektive Sozialpolitik.

Die Frage ist freilich, wie weit sie damit kommen werden. Der neue LSAP-Fraktionschef Alex Bodry hatte in seiner Rede zur Regierungserklärung vor dem Parlament die Regierung gebeten, klare Prioritäten zu setzen und möglichst rasch Aktionspläne vorzulegen, wie die angestrebten Ziele in den kommenden fünf Jahren umgesetzt werden sollen. Im Wirtschaftsministerium von Etienne Schneider, im Außenministerium eines Jean Asselborn oder auch Nicolas Schmit im Arbeitsministerium dürfte das leichter fallen. Immerhin hatten die neuen und alten Dienstherren mindestens vier, wenn nicht sogar mehr Jahre Zeit, sich mit den Strukturen, Inhalten und Interna vertraut zu machen.

Die neuen Minister dagegen müssen sich erst mühsam in ihre Ressorts einfuchsen. Das kann Wochen, je nach Komplexität sogar Monate dauern. Wer dieser Tage in den Ministerien anruft, bekommt oft freundliche Sekretäre und Sekretärinnen ans Telefon: Die Minister lassen sich durch die Abteilungen führen, sie sprechen mit Regierungsberatern und anderen hohen Beamten. Im Erziehungsministe-rium wurden die Abteilungschefs zu Einzelsprächen gebeten; ähnlich verfährt auch Corinne Cahen im Familienministerium.

Aber anders als im Erziehungsministerium ist die Aufgabe für die 40-Jährige ungleich schwerer: Viele Dossiers sind sehr technisch. Cahen aber bringt weder einen Staatssekretär zur Unterstützung mit ins Haus, noch hat sie bisher einen loyalen Berater an ihrer Seite. Das Familienministerium wurde seit Jahrzehnten mit einer kurzen Ausnahme (Benny Berg von der LSAP von 1974 bis 1979) ununterbrochen von der CSV regiert und gilt als schwarze Hochburg. Nicht nur das: Kenner berichten, dass loyale Beamte bei Marie-Josée Jacobs große Freiheiten genossen, was bei tatkräftigen effizienten Mitarbeitern positiv sein kann, aber mitunter zu Einzelkämpfertum und Klientelismus führt. Von den hohen Beamten sitzt das Gros überdies nicht nur in einem, sondern in mehreren Verwaltungsräten von Altersheimen, Behindertenwerkstätten oder Kinderheimen. In diese verkrustete Struktur Bewegung und neuen Schwung zu bringen, ist eine wahre Herkulesaufgabe.

Corinne Cahen hat einen eigenen Kopf. Bei Radioauftritten oder Rundtischgesprächen, auch bei weniger offiziellen Anlässen, wie im „Résumé vum Dag“ auf ihrer Facebook-Seite, redete sie in der Vergangenheit oft frei vor der Leber weg. Macht- und Insiderwissen, Sachkompetenz, selbst den nötigen Rückhalt in der eigenen Partei muss sich die Newcomerin, die auf Anfrage ihres alten Schulfreunds Xavier Bettel bei der DP einstieg, erst noch erarbeiten.

Sollte die neue Ministerin Ernst damit machen, etwa die Konventionen und Betriebsgenehmigungen der unübersichtlichen mehreren hundert bis tausend ASBL im Alten- und Behindertenbereich zu überprüfen, dann wird sie die Ärmel aufrollen müssen und darf sich auf ordentlichen Gegenwind gefasst machen. „Pour les gestionnaires principaux actifs dans les domaines sujets à agrément par le bias de la loi ASFT, le Gouvernement veillera à une transparence financière optimale“, steht im Koalitionsvertrag. Da erscheint es fast wie eine Kampfansage, dass die neue Präsidentin der mit dem Familienministerium traditionell eng verbundenen katholischen Fondation Caritas neuerdings Marie-Josée Jacobs heißt.

Von staatlichen Konventionen profitieren zahlreiche andere, kleinere und größere Vereine, die sich nicht übermäßig freuen dürften, künftig strenger auf die Finger geschaut zu bekommen. Denn das war auch eine Realität unter Jacobs: Verschiedene hatten kein klares Konzept, brauchten es auch gar nicht, schließlich nahm es das Ministerium mit den Vorgaben und der Transparenz oft selbst nicht so genau: Das Office luxembourgeois pour l’accueil et l’intégration (Olai) hat zwischen 2008 und 2012 sein Personal verdoppelt, seit seiner Gründung wurde rund eine Million Euro in den Dienst investiert, wobei aber nicht ganz klar ist, wo das Geld genau ausgegeben wurde. Der Dienst schreibt trotz Integrationsverträgen von mehreren zehntausend Euro keinen Tätigkeitsbericht. Das beklagte jedenfalls der ehemalige Präsident der Ausländerorganisation Asti, Serge Kollwelter, in einem offenen Brief Anfang November an die verhandelnden Koalitionäre. Auch andere Tätigkeitsberichte von Vereinen im sozialen Sektor sind für die Öffentlichkeit kaum oder gar nicht einzusehen. Eine Sisyphusarbeit, hier Ordnung und Übersicht hineinbringen zu wollen. Zumal die Träger und die Gewerkschaften in diesem Sektor gut organisiert sind und jede Regung mit Argusaugen verfolgen.

Da scheint es leichter, sich erst einmal an große Ausgabenposten zu halten – und diese diskret durchzurechnen. 74 Mal taucht das Wort „analysieren“ im Koalitionsvertrag auf; bei den Familienzulagen hat die Regierung versprochen, genau zu prüfen, wer was warum bekommt; und hat mehr Selektivität angekündigt. Land-Informationen zufolge sollen bereits erste Berechnungen in der Rue Emile Reuter in Auftrag gegeben worden sein. Auch der Elternurlaub (Haushalt 2012: staatlicher Beitrag 55,9 Millionen Euro) soll durchgerechnet und laut Regierungsabkommen „flexibilisiert“ werden, wobei dort die Sozialpartner ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Ebenso wie die Ausgaben für das Mindesteinkommen RMG, die im Haushalt 2012 mit 150 Millionen Euro veranschlagt wurden. Den Arbeitgebern ist die Sozialhilfe und ihre Anpassung an gestiegene Lebenshaltungskosten ein Dorn im Auge. Aber auch Beamte sagen hinter vorgehaltener Hand, das System müsse überprüft werden, es gebe deutliche Fälle von Missbrauch. Als das Land kürzlich für eine Reportage im hauptstädtischen Bahnhofsviertel untrrwegs war, berichteten Polizisten von betrügerischen RMG-Beziehern, die in Luxemburg oft zu 20 oder mehr an einer Adresse angemeldet sind und Sozialhilfe kassieren, obwohl sie jenseits der Grenze wohnen. Darüber, wie hoch der Schaden durch diesen Betrug für die Allgemeinheit ist, existieren keine Schätzungen.

Allerdings wird die neue Regierung, und ergo die Familienministerin, auch Geld in die Hand nehmen müssen, wenn sie ihr Programm umsetzen will. Im Bereich Handicap hat Blau-Rot-Grün versprochen, den Zugang von behinderten Bürgern zum Transport, zur Schule, zu Vereinen zu verbessern sowie die Hilfe zur Selbsthilfe zu stärken. Das wird nicht ohne Mehr-Investitionen gehen. Die Vorarbeiten zum Schattenbericht, der den Standpunkt der Betroffenen zum Länderbericht darstellt, den Luxemburg nach Genf schicken und in dem die Regierung erklären muss, wie sie die UN-Behindertenrechtskonvention und die im Aktionsplan festgesetzten Ziele umsetzt, stocken: Weil die Betroffenen diese Arbeit ehrenamtlich verrichten müssen und kaum eigene Mittel haben, um einen aufwändigen, rechercheintensiven Bericht zu schreiben, sind sie auf mehr staatliche Unterstützung angewiesen.

Auch bei den Asylbewerbern wird Cahens Ministerium nicht umhin kommen, mehr Geld auszugeben, wenn die Regierung die Lebensbedingungen der Flüchtlinge in den Asylbewerberheimen denn wirklich verbessern (d’Land vom 22.11.2013) und etwa die niedrigen Hilfen von 25 Euro pro Monat und Erwachsenen (12,50 Euro pro Kind) aufstocken will. Dazu müsste die neue Integrationsministerin das von der Vorgängerin vernachlässigte Thema überhaupt einmal ernst nehmen – und endlich eine proaktive vernetzende Kommunikation zwischen Staat und Gemeinden beginnen, so wie es Ausländerorganisationen seit Jahren fordern. Dass Gemeinden über die Presse über geplante Unterbringungen von Flüchtlingen auf ihrem Gebiet erfahren, zeugt nicht nur von mangelndem Respekt gegenüber den Kommunen und ihren Bürgern, sondern erschwert im ungünstigsten Fall die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen. Hier könnten Corinne Cahen ihre Erfahrungen in der Kommunikation noch nützlich werden. Aber Charme allein reicht nicht aus, wenn es darum geht, neue Spielregeln in Verwaltungen umzusetzen.

In der Alten- und in der Armenpolitik kommen ebenfalls Neuausgaben auf die Regierung zu: Wenn die Wohnungshilfe ausgebaut wird und wenn sie, statt wie die Vorgängerin ausschließlich in Altersheime, in dezentrale, autonom geführte Wohngruppen investieren will. Die Ausgaben im Altenbereich genau zu überprüfen, könnte sich in barer Münze auszahlen. Dass bei Betreuungsleistungen nicht immer richtig abgerechnet wird, dass übergroße überteuerte Altenheime auf die grüne Wiese gebaut und Konventionen abgeschlossen werden, ohne dass gesichert ist, dass überhaupt Bedarf besteht, kritisieren Insider schon länger. Aber ältere Personen sind eben oft auch treue CSV-Wählerinnen und -Wähler.

Viele Aufgaben also für die neue Ministerin, die keine einfachen Ressorts und sicher kein Schmalspur-Ministerium übernommen hat – zumal sie sich nebenbei noch um die Großregion kümmern muss. Sie könne es „nicht ausstehen, nichts zu tun“, hatte Corinne Cahen im März im Land-Stilporträt gemeint. Dass sie sich in ihrem neuen Job langweilen wird, lässt sich so gut wie sicher ausschließen.

Ines Kurschat
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