Anatomie Titus Fall of Rome

Der Gote ist ein Neger ist ein Jude

d'Lëtzebuerger Land vom 18.03.2004

Glacis heißt der Vorplatz des Stadttheaters noch aus der Zeit, als er das ungedeckte Gelände vor der Festung war. Am Wochenende hatten dort Goten in H[&]M-Kakiklamotten ihr nächtliches Lager zwischen Bauschutt und Regenpfützen aufgeschlagen. Eine Überwachungskamera übertrug das Bild des herannahenden Feinds am Fuß der Festung Europa ins Innere auf die Bühnenwand.

Für Heiner Müller war The most lamentable Romaine Tragedie of Titus Andronicus (1594), der Splattermovie des frühen Shakespeare, eine Tragödie vom Einbruch der armen Dritten in die reiche Erste Welt. Deshalb ist seine kommentierende Bearbeitung Anatomie Titus Fall of Rome (1984) noch immer klüger, ergiebiger und humorvoller als sämtliche Betroffenheitsfestivals, die derzeit um die "Ausländer- und Asylproblematik" veranstaltet werden. Nachdem das Nationaltheater bis vor zwei Jahren die einzigen wichtigen Stücke im Land zeigte, hat neuerdings das Stadttheater diese Rolle übernommen. 

Feldherr Titus Andronicus (André Jung), der so viele Kriege geführt hat, um der reichen Weltmacht Rom die Armen vom Hals zu halten, kehrt ausgelaugt heim, im Tross die gefangene  Gotenkönigin Tamora (Marion Breckwoldt), ihre Jeunesse-dorée-Söhne und ihr schwarzer Liebhaber Aaron. Die Ermordung von Tamoras ältestem Sohn löst eine groteske Rache- und Gewaltorgie aus, in der Tamora bis an die Spitze der römischen Herrschaft gelangt, um sie von innen heraus zu zerstören und natürlich selbst darin umzukommen.

Der als Leiter der Hollandia-Truppe bekannt gewordene niederländische Regisseur Johan Simons verzichtet in seiner Inszenierung für die Münchner Kammerspiele auf jede Bebilderung der Schrecken. Wenn Titus Andronicus' Tochter Lavinia (Nina Kunzendorf) vergewaltigt und verstümmelt wird, nestelt sie höchstens einmal am Reißverschluss ihres Anoraks, während Wolfgang Pregler Heiner Müllers in Versalien gedruckte Kommentare mit ironischer Distanz als "Entertainer" vorträgt, aber auch als "Totenführer", wie Müller in einem Nachwort schreibt.

Die Schauspieler sitzen auf der Bühne in denselben Klappstuhlreihen wie die Zuschauer und sehen wie diese gelangweilt der Weltgeschichte zu, bis die Dritte Welt eindringt wie das tschetschenische Selbstmordkommando vor zwei Jahren in das Moskauer Theater Nord-Ost. Der wirkliche Regisseur, der diese blutige Tragödie der Rache in Bewegung setzt und steuert, ist für Heiner Müller der Afrikaner Aaron (Hans Kremer), ein Osama bin Laden, dem es erstmals gelingt, einen Kolonialkrieg auf dem Boden der Ersten Welt zu führen: Zu Back in the USSR der Beatles beginnen die Zuschauerränge auf der Bühne sich aufzurichten und drohen, die ganze Theaterwelt vom Kopf auf die Füße zu kippen.

Bei Shakespeare wird Titus Andronicus' Sohn Lucius nach der Katharsis des kannibalischen Blutbads ein neuer Kaiser, "to Order well the State / That like Events, may ne're it Ruinate". Aber Paul Herwig gibt ihn als Weichei mit Rollkragen, bis die Goten beschließen: "Vielleicht gefällt es uns in Rom zu bleiben." Sofort droht er: "Schwerter genug hat Rom euch zu vertreiben / Der Gote ist ein Neger ist ein Jude." Und natürlich ein Afghane, ein Iraker und ein westafrikanischer Dealer aus dem Kosovo.

 

Im Mai beim Berliner Theatertreffen.

 

 

Romain Hilgert
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