Als Emma in Luxemburg die Frau mit den roten Stoppelhaaren vor einem Schaufenster stehen sieht, ist die Erinnerung mit einem Schlag wieder da. Ist sie es? Ist es Nelly, ihre Schulfreundin, die sie seit acht Jahren nicht mehr gesehen hat? Auch sie hatte sich damals die Haare kurz rasiert und rot getönt, Nelly, die extravagante Kleider mochte und Dostojewski las sowie Gedichte von Lord Byron und Wuthering Heights von Emily Brontë. Damals waren die Teenager unzertrennlich, wenn auch grundverschieden. Doch nach dem Abitur verschwand Nelly spurlos. Seitdem hat Emma nichts mehr von ihr gehört. Die Frau dreht sich um; sie ist es nicht. Doch die lebendige Erinnerung bleibt, und Emma begibt sich auf Spurensuche nach ihrer besten Freundin, um herauszufinden, was damals wirklich geschah.
Maryse Krier veröffentlicht seit 1990 Kurzgeschichten, Gedichte und längere Erzählungen; ihr Roman Herzschlag wurde 2000 mit dem ersten Preis der Vereinigung Liberté de conscience ausgezeichnet und unter dem Titel Martha (2004, Regie: Léon Weis) verfilmt. Auch Ein starkes Band fokussiert sich wie dieser Roman auf eine Figur, die ihr Leben gewissermaßen in Retrospektive erforscht. Die Spannungen einer Freundschaft werden voller Emotionen und Gefühle heraufbeschworen, die ersten Flirts und Liebschaften von Emma, das Abitur und die Reise nach Lloret de Mar. Die Perspektive folgt Emmas quälender Suche: Ihre detektivische Ermittlungsarbeit in der erzählten Gegenwart und ihre Erinnerungen bescheren ihr schlaflose Nächte. Die Introspektion in diese Figur, ihre Gefühle, Wünsche und Ängste, zeichnen ein umfassendes Bild von Emma, wenn auch die Erzählperspektive zwischendurch etwas abrupt springt, die LeserInnen in Szenen im Präsens unmittelbar in die Ereignisse einbezogen werden, um an anderer Stelle Dialoge nur in indirekter Rede oder in sehr gestelzter Sprache zu verfolgen. Dabei ist der Lesefluss allgemein schnell, die Erzählung einfühlsam. Emma erscheint als fassbare Figur, wenn auch eine Kernfrage ungestellt bleibt: Die Frage, wieso diese Suche für Emma so dringend ist und als regelrechte Besessenheit in ihr durchweg geregeltes Leben platzt und alles auf den Kopf stellt.
Sucht sie nach einer Erklärung für das Geheimnis von früher? Oder vielleicht nach etwas ganz anderem? Vielleicht findet sich in dieser Leerstelle das zu erwartende „unerhörte Ereignis“, der essentielle Kern einer Novelle, als die Ein starkes Band auf dem Cover ausgezeichnet wird. Klingt hierin vielleicht zwischen den Zeilen die Möglichkeit an, dass Emma doch geahnt hat, was ihre Freundin damals bewegte? Treibt sie selbst jetzt etwas Unausgesprochenes an? Denn auch ab dem Zeitpunkt, ab dem Emma Gewissheit hat über das Verschwinden, forscht sie weiter und beharrt darauf, ihre Freundin von Angesicht zu Angesicht wiederzusehen. Hierin liegt der stärkste Aspekt des Textes: In dieser Ungewissheit, ob Emma nicht doch viel mehr wollte, ohne es sich selbst einzugestehen, und ohne dass es für die LeserInnen klar benannt wird.
Alle, die das Buch wie einen Krimi lesen und mit Emma ermitteln wollen, sollten diesen Absatz jetzt überspringen, denn hier folgt – damit das Vorherstehende nicht ganz so nebulös klingt – ein Spoiler. Nelly hatte sich damals in Emma verliebt, flüchtete aber nach London, da eine Beziehung zu der offensichtlich heterosexuellen Emma unmöglich war. Ist dieses Geheimnis ihr ein „unerhörtes Ereignis“ (hoffentlich nicht!); oder war es dann doch das Verschwinden an sich? Am Ende bleibt unklar, ob Emma schwankte, obwohl sie die ganze Zeit so standfest klang. Ob sie sich nun an eine Freundschaft oder an eine Liebe erinnerte, und was von beiden sie suchte. Durch ihre Suche gerät ihr Leben ins Wanken, dabei bleiben ihre eventuellen Zweifel an der eigenen sexuellen Identität unausgesprochen und klingen höchstens zwischen den Zeilen an.
Der Text hängt mit diesen Fragen noch lange nach, lässt über die Motivation einer scheinbar transparenten Figur rätseln, die unvermittelt in Erinnerungen gestürzt wird, die ihr Leben durcheinanderwirbeln. Einfühlsam dargestellt, mit Anspielungen und Verweisen an die von Nelly gelesenen und im Text zitierten romantischen Klassiker, bestückt mit symbolischen Motiven, wenn auch mit ein paar sprachlichen Stolpersteinen, erzählt Ein starkes Band die gefühlvolle Geschichte einer Frau, die sich selbst hinterfragt, aber dabei stets zu zögern scheint.