In der Odyssee erzählt der Held um sein Leben. Immer wieder, bei jeder Station, bei jeder Begegnung, muss er seine Geschichte glaubwürdig erzählen, um weiterreisen zu können nach seiner fernen Heimat Ithaka, um endlich anzukommen. Und so passt er die Geschichte seiner Abenteuer an, um Gefahren zu entgehen oder sich Vorteile zu verschaffen. Dabei hat er nach 30 Jahren Irrfahrt nur ein Ziel: den unbarmherzigen Schikanen Poseidons zu entkommen. Jede Lebensgeschichte ist, wie das Wort bereits sagt, eine Geschichte – und Geschichten müssen erzählt werden. Aus dieser Perspektive vereint Réhumanisez-moi neun Berichte, die die Association Passerell aus mehr als 700 Texten ausgesucht hat: Exilgeschichten von Menschen aus Eritrea, Somalia, Afghanistan oder dem Irak, deren Weg sie über Libyen, Pakistan oder Griechenland bis nach Luxemburg geführt hat.
Die Berichte in Réhumanisez-moi geben den Erzählenden eine Stimme, ihrer individuellen Suche nach Asyl Gewicht. Die Biografien erinnern, wie Smaïn Laarcher in seinem Geleitwort schreibt, an die „présence humaine qui oblige“ hinter den Zahlen, appellieren an das Mitgefühl der Leser/innen. Ihre Erzählungen zeichnen ein Bild dessen, was die meisten von uns nicht selber erlebt haben. Im Bericht teilen sich Erfahrung und Gesehenes mit. Aber Erzählen kann auch Traumata wieder an die Oberfläche bringen. Es sind keine fiktiven Geschichten wie die Odyssee, sondern authentische Erlebnisse. Doch der Seitenblick zum Mythos gemahnt eine grundlegende und problematische Parallele: Die Gastfreundschaft, die Odysseus sucht, nennt sich heute Asyl, und im Asylrecht entscheidet oft die Glaubwürdigkeit der Erzählung. Oder vielmehr: Ob die Erzählenden für glaubwürdig befunden werden, entsprechend der Erwartungshaltung der Zuhörer/innen. Denn dies kann zur Voraussetzung der Anerkennung der Menschenrechte der Geflüchteten werden. Im bürokratischen Dschungel haben diejenigen, die die Spielregeln festlegen, auch die Auslegungshoheit über „wahr“ und „falsch“ der Berichte und ihr abschließendes Urteil über ein Schicksal.
Auch das wird zur Sprache gebracht, wenn die Erzählungen durch Faktuales ergänzt werden. Im Stil eines Scrapbook finden sich verschiedene Dokumente: Karten, ein Schema des bürokratischen Ablaufs eines Asylantrags, Textnachrichten, Zeichnungen des Künstlers Mauro Doro, Ausweise und Briefschnipsel, die nicht nur die Personen und ihren Charakter, sondern auch die Maschinerie des Asylrechts verdeutlichen. Die Texte sind so gut geschrieben, die Geschichten so bewegend, so persönlich, so ernst und eindringlich, dass die verhandelten gesellschaftlichen, politischen und moralischen Fragen nicht direkt gestellt werden müssen, die ein Einzelschicksal an eine Gesellschaft als Ganze stellt.
Berichtet wird von den katastrophalen Zuständen in den überforderten und von der europäischen Gemeinschaft alleingelassenen Staaten Italien und Griechenland. Dass Antragsteller/innen das Land nicht verlassen dürfen, solange ihr Asylantrag nicht abschließend bearbeitet wurde, auch wenn sich das über Jahre hinziehen kann. Dass das Urteil des Verwaltungsgerichts in Luxemburg über den Asylantrag eines Irakers auch von dem Unwillen bestimmt wurde, mit einem Einzelfall einen Präzedenzfall zu schaffen. Aber zugleich wird hiermit über das Leben eines Menschen entschieden – und das Schicksal einer Familie und das vieler anderer Migrationsgesuche. Vieles im europäischen Asylrecht (dessen Umsetzung und Grundlagen wie Dublin II und III) bleibt kritikwürdig und der menschlichen und politischen Realität anzupassen.
Viele Geschichten wirken nach dem Lesen lange nach. Vor allem Semirah aus Eritrea, die ihren Mann erst nach siebeneinhalb Jahren Trennung wiedersieht, und die jahrelang allein dafür kämpft, ihre zwei Kinder nach Luxemburg zu holen; die 11 000 Euro bezahlen muss, um sie über eine Grenze in ein Lager schmuggeln zu lassen, bis die Bürokratie endlich mitzieht und die Kinder nach Luxemburg bringt. Wie die Einzelne hier mehr erreicht als ein System, das sie eigentlich schützen sollte. Der Band liefert konkrete Fälle, deren Ausgang oft irritiert, und Ansätze, das Asylrecht zu überdenken, die Vorgehensweisen und Urteile über „berechtigt“ und „unberechtigt“, „glaubwürdig“ und „unglaubwürdig“ in Frage zu stellen. Immer wieder treten Kinder – „Minderjährige“ genannt – als Verlierer und Abgehängte hervor. Viele haben keine Familie, die sich für sie einsetzen kann, und so setzt oft niemand sich für sie ein. Es gibt auch Berichte, in denen die Betroffenen zum Schluss verschwinden. Ihre Freiheit finden sie scheinbar außerhalb des Systems, auf der weiteren Flucht, ohne Papiere, oder im Dschungel von Calais. Europäisches Asylrecht dürfte dies nicht als erstrebenswertere Alternative, als bessere Freiheit erscheinen lassen.