Die Sozialdemokraten wollen an die Macht. Mit aller Macht und mit Aller Macht. Das ist neu – schaut man auf die vergangenen Bundestagswahlen zurück. Selten hat sich die SPD in einem Wahlkampf so geschlossen, so frei von parteiinternen Machtkämpfen und Selbstzerfleischung präsentiert wie in diesen Tagen. Und der Lohn scheint ihr gewiss: In den vergangenen Wochen konnte die abgeschriebene Partei in der Wählergunst der Meinungsumfragen alle übrigen Parteien überholen und stellt nun mit Olaf Scholz den aussichtsreichsten Kandidaten für das Bundeskanzleramt. Ausgerechnet Olaf Scholz, der noch vor zwei Jahren von parteiinternen Gegnern als Vorsitzender verhindert wurde. Selbst in den vorangegangenen Positionen – sei es als Generalsekretär unter Gerhard Schröder oder nachfolgend als Vizeparteivorsitzender – wurde er immer knapp ins Amt gewählt. Mit knapp über 50 Prozent. Was auch bedeutete, dass knapp eine Hälfte immer gegen ihn stand. Und nun: Einigkeit all überall. Geschlossenheit in aller Stille. Und im Rausch der Meinungsumfragen.
Die Sozialdemokraten profitieren derzeit einzig und allein von der großen Popularität des Olaf Scholz. In der Bevölkerung. Würde der Bundeskanzler direkt vom Volk gewählt, dann würden – so schätzten es die Wahlforscher am vergangenen Sonntag – sich 30 Prozent für Scholz aussprechen, 17 Prozent für Annalena Baerbock (Grüne) und 14 Prozent für Armin Laschet (CDU). Daraus konstruieren die Medien gerne einen neuen Himmelsstürmer am politischen Firmament. Außer Acht lassend, dass die Zahlen auch aussagen, dass sich 39 Prozent der Befragten noch gar nicht entschieden haben oder gar keinen der drei wählen würden. So viel Euphorie macht ein wenig trunken: Lagen die Sozialdemokraten in der Vergangenheit festgenagelt bei 14 Prozent – wobei manch ein Wahlaugur auch ein einstelliges Wahlergebnis für möglich hielt –, so sind es nun 23 Prozent. Damit ist die SPD derzeit gleichauf mit der CDU, aber deutlich vor den Grünen.
Das erstaunt. Zugegebenermaßen. Die Gründe für diesen Sinneswandel in der Wählgunst können nicht die Begeisterungsfähigkeit und das Charisma des derzeitigen Bundesfinanzministers sein. Oder eben gerade doch, denn: Olaf Scholz patzt nicht. Er macht keine Fehler. Anders formuliert: Wer nichts sagt, sagt nichts Verkehrtes. Scholz feixt nicht hinter dem Rücken des Bundespräsidenten und liefert kein Plagiat zwischen zwei Buchdeckeln ab. Er ist irgendwie verstrickt in große Finanzskandale der Republik – ob als Hamburgs Erster Bürgermeister in die Cum-Ex-Affäre der Warburg Bank oder als Bundesfinanzminister in den Wirecard-Skandal –, doch beide sind zu kompliziert in der Erläuterung, als dass die Stammtische im Land darüber ein Urteil fällen könnten oder es sich in eingängigen Twitter-Nachrichten zusammenfassen ließe. Die Medien begleiten den derzeitigen Wahlkampf mit der Skandalisierung des Moments und veröffentlichen lieber Hitlisten der schönsten Patzer und Aussetzer – vorzugsweise von Laschet und Baerbock –, als dass sie sich in eine Debatte und Würdigung der Wahlprogramme oder der Lobbyismus-Verstrickungen von Scholz begeben.
Selbstredend war Programmatik noch nie ein großes Diskussionsthema in Wahlkämpfen. Das Wahlvolk liebt einfache Botschaften mit knackigen Sprüchen ohne Fußnoten und ausschweifende Erläuterungen, schon gar nicht zur Finanzierbarkeit und Umsetzbarkeit des jeweiligen Wunschthemas. Die Wählerinnen und Wähler verkennen dabei auch, dass die Plakatbotschaften und Wahlprogramme ohnehin nur eine Art Verhandlungsmaße sind, mit der die betreffende Partei nach der Wahl in eventuelle Koalitionsverhandlungen eintritt. An deren Ende bleibt von diesen Maximalforderungen ohnehin nur ein Rest als gemeinsamer Nenner zwischen den Parteien übrig, von dem wiederum nur ein Bruchteil in der Regierungszeit umgesetzt wird.
Die SPD beherrscht in der diesjährigen Kampagne den perfekten Mikado-Wahlkampf. Oder gibt sich als der sprichwörtliche Lachende Dritte, der dem Streit zwischen Baerbock und Laschet von der Seitenlinie aus zuschaut. Doch die Euphorie bei den Sozialdemokraten hat noch einen weiteren Grund, der in den Anfängen des diesjährigen Wahlkampfs liegt. Genaugenommen in der Entscheidung von CDU und CSU, sich auf die Grünen als wichtigsten oder einzig ernstzunehmenden Gegner festzulegen, die SPD abzuschreiben und nicht weiter zu beachten. Die Christdemokraten kaprizierten sich folglich auf ur-grüne Themen, wie etwa die Klimapolitik, und versuchten diese abzuräumen. Themen wie die Sozial-, Renten- und Arbeitsmarktpolitik ließ man vollkommen offen, so dass die SPD sich programmatisch ungestört und voll entfalten konnte, nun mit simplen Botschaften zum Mindestlohn und zur Steuerpolitik punktet. Hier bleiben die politischen Gegner seltsam still.
Olaf Scholz orientiert sich am Wahlkampf von Malu Dreyer im Frühjahr dieses Jahres. In seinen Wahlkampfauftritten verweist er oft auf die rheinland-pfälzische SPD-Ministerpräsidentin. Etwa während eines Wahlkampfauftritts in Berlin, den er mit den Worten beschließt: „Nutzt die Zeit, mit vielen zu sprechen, ihnen zu sagen: Wer will, dass Olaf Scholz der nächste Kanzler wird, der muss sein Kreuz bei der SPD machen.“ So hatte Dreyer die Landtagswahl gewonnen: Wer Dreyer will, muss SPD wählen. Was aber sein wird, wenn er am Berliner Kabinettstisch sitzt und vor allen Dingen, mit wem er dort sitzen will, darüber schweigt Scholz sich dieser Tage aus. Er hängt seine Fahne in alle Winde, die da wehen, um sich nicht unmöglich zu machen – weder bei den Linken noch bei der CSU. Diese Beliebigkeit in der politischen Anbiederei macht ihn in den letzten Wochen vor der Wahl jedoch angreifbar.