Der Schrei des Hahns, das Muhen der Kuh, der Geruch des Misthaufens: Ländliche „sons et odeurs caractéristiques“ gehören seit Januar zum Kulturerbe Frankreichs. Das Gesetz zum Schutz des „patrimoine sensoriel des campagnes“ soll verhindern, dass neu aufs Land gezogene Städter die Hochglanz-Idylle aus Journalen wie Kinfolk oder Landlust vor Gericht einklagen. In letzter Zeit häufen sich derartige Konflikte mit alteingesessenen Bauern. Im Internet sprießen Beratungsportale wie Paris-je-te-quitte oder Suburban-Jungle: Die Lichter der Großstadt verblassen.
Bereits 1994 kündigte eine Ausstellung im Pariser Centre Pompidou das Ende der Städte an. „Computervernetzung“ werde physische Marktplätze überflüssig machen. Das wollte im Gründungsjahr von Amazon aber niemand glauben: Leere Straßen, bröckelnde Fassaden, verrammelte Fenster? Bloß ein Thema für Orte, die der Jugend nichts zu bieten haben außer Rauchen an der Bushaltestelle. Die 50 „Superstar Cities“ des McKinsey-Rankings wähnten sich lange unangreifbar. Heute droht sogar Millionenstädten die Todesspirale: Abwanderung – sinkende Wirtschaftskraft – schwindende Daseinsvorsorge. Die Flucht aus überfüllten Zentren wird dabei von Corona lediglich verstärkt; begonnen hat der Trend früher.
New York City zum Beispiel, das Urbild einer Metropole, schrumpft schon seit 2016. Im Gefolge des ersten Lockdown registrierte die Post dort 300 000 Nachsendeanträge. Zunächst tönte Bürgermeister Bill de Blasio, er laufe den „Schönwetter-Freunden“ nicht hinterher; Big Apple ziehe Menschen aus aller Welt an. Dann dämmerte den Politikern, dass 60 Millionen Touristen pro Jahr so schnell nicht wiederkommen. Und dass die andere Hälfte der Steuergelder von dem einen Prozent der Bevölkerung kam, das sich gerade aus Upper West und East Side verabschiedet hat. Gouverneur Andrew Cuomo tingelte darauf durchs Hudson Valley und bettelte: Die Besitzer der Ferien-Anwesen sollten doch bitte ihren Hauptwohnsitz zurückverlegen.
Gut betuchte Ex-New-Yorker haben aber keine Eile, wieder Zuschläge fürs Wohnen in Manhattan zu berappen. Luxusläden, Kunstgalerien und Privatschulen sind ihrer Klientel in die gemütlichen grünen Vorstädte gefolgt – und das Wichtigste im Leben ist ja ohnehin der Internetanschluss. Viele Wallstreet-Banker wollen sogar ganz aus dem Nordosten weg: Im Dezember wurde bekannt, dass über 30 große Finanzfirmen in Florida sonnige Standorte sondieren. Goldman Sachs hat bereits Backoffice-Jobs in preiswertere Gegenden verlagert; jetzt liebäugeln die Chefs der Vermögensverwaltung mit dem Hinterland von Miami. Die Stadt New York rechnet bis 2022 mit einem Finanzloch von 59 Milliarden US-Dollar. Folgen für die Lebensqualität sind absehbar: Die Zahl der Polizisten ist bereits rückläufig – die Zahl der Morde seit 2019 um 40 Prozent gestiegen.
Noch größer ist der Aderlass in Los Angeles, San Francisco und Silicon Valley, den drei dichtesten Ballungsräumen der USA. Im vergangenen Jahr war Kalifornien in der Statistik der Umzugsfirma U-Haul der größte Verlierer aller US-Staaten: Nicht einmal aus den Slums von Chicago zogen so viele Menschen weg. Weil niemand in die Gegenrichtung wollte, mussten Kunden zeitweise drei Wochen auf einen Umzugswagen nach Tennessee, Arkansas oder Texas warten. In San Francisco brachen die Mieten um mehr als 30 Prozent ein; in beliebten Zielorten wie Nashville oder Austin steigen die Hauspreise deutlich.
„Stadtflucht“ trifft das nicht ganz: Die neue Völkerwanderung zieht nicht in abgelegene Gehöfte auf dem flachen Land, sondern vor allem in kleine und mittlere Städte mit guter Infrastruktur. Genauer: in die zersiedelte, flächenfressende Suburbia. Der nur per Auto zu erschließende Häuserbrei des urban sprawl ist Stadtplanern, Ästheten und Klimaschützern verhasst – für junge Familien aber unwiderstehlich: viel Platz und wenig Bauvorschriften, schnelles Internet, Wiesen und Wälder in bequemer Fahrdistanz, ebenso Schulen, Ärzte und Einkaufszentren.
Donut-Siedlungen verbreiten sich auch in Europa: Im Zentrum verrotten leerstehende Altbauten, an den Rändern wuchern Neubauviertel. Die sieben größten Städte Deutschlands, die ab dem Jahr 2000 rasant wuchsen, verlieren nun seit rund sechs Jahren wieder Einwohner – meist an angrenzende Gemeinden. Im Jahr 2018 zogen 15 000 Berliner nach Brandenburg, 13 000 Münchner nach Oberbayern. Das abgehängte Niemandsland profitiert davon nicht: Seit 1990 haben periphere ostdeutsche Landkreise mehr als ein Drittel (!) ihrer Bewohner verloren, und das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung erwartet bis 2035 einen Schwund von einem weiteren Viertel. Dagegen gedeihen ballungsraumnahe Speckgürtel, etwa um Amazon-Logistikzentren wie Koblenz oder Pforzheim.
Vor allem Inländer verlassen die Innenstädte. Berlin legte im vergangenen Jahr nur dank Ausländern um 767 Einwohner zu; die Zahl seiner deutschen Bürger sank um mehr als 11 000. Dass Flüchtlingswelle, Kriminalität und schwindendes Sicherheitsgefühl dazu beitragen könnten, darf in Deutschland nicht laut vermutet werden. Politisch korrekte und breit diskutierte Push-Faktoren sind dagegen Lärm, Luftverschmutzung, Enge und Grau der Großstadt, besonders aber die Unerschwinglichkeit von Wohnraum. In Berlin sind die Mieten seit 2007 durchschnittlich um 45 Prozent auf rund zehn Euro pro Quadratmeter gestiegen, in München um 35 Prozent auf über 16 Euro – gut doppelt so viel wie im Umland.
Die Immobilienbranche treibt vor allem eine Frage um: Wird Home-Office auch nach Corona zur Dauereinrichtung? Wer nur noch selten ins Büro muss, akzeptiert auch längere Anfahrten. In die deutsche Pendlerhauptstadt Frankfurt strömten vor Corona jeden Werktag über 400 000 Arbeitskräfte. Weil sich das Einzugsgebiet vergrößern könnte, durchstöbern Makler nun nordhessische Dörfer in Autobahnnähe.
Büros sind traditionelle Lieblinge professioneller Investoren: Allein in Berlin und Frankfurt gaben sie 2020 dafür knapp zehn Milliarden Euro aus, wohl in der Hoffnung auf Zuzug aus London. Wenn aber auch nur 15 Prozent der Bürobeschäftigten zu Hause blieben, würden in den deutschen Top-Sieben-Städten mehr als 13 Millionen Quadratmeter Büroflächen nicht mehr benötigt, hat die Immobilienfirma JLL ausgerechnet. Die größten Verluste drohen demnach München, Köln und Düsseldorf: viele potentielle Tele-Arbeiter und ein großes Immobilien-Preisgefälle zur Umgebung.
Jetzt rächt sich auch die einseitige Spezialisierung vieler Städte auf Einzelhandel. Apotheken, Modeläden und andere ehemalige Frequenzbringer werden vom Online-Handel gefressen. Die letzte große deutsche Warenhauskette GKK, die einmal mit dem Slogan „Großstadt, Weltstadt, Karstadt“ geworben hatte, bekommt 460 Millionen Euro Corona-Hilfen. Trotzdem wird jede dritte der verbliebenen Filialen geschlossen, auch früher gute Lagen wie München-Stachus, Hamburg-Mönckeberg oder Trier-Simeonstraße. Was tun mit den riesigen, fensterlosen Kaufhäusern? Der verzweifelte Handelsverband HDE kann sich neuerdings sogar vorstellen, dass in den Stadtzentren auch „Senioren-Pflegeheime und Kindertagesstätten Platz finden könnten“.
Viele der leerstehenden Bunker wurden einst mit Subventionen errichtet. Heute buhlen ambitionierte Kommunen nicht mehr um Firmen, sondern um Fachkräfte. In den USA locken zum Beispiel Bentonville und Tuscumbia gutverdienende Tele-Arbeiter mit 10 000 Dollar Begrüßungsgeld, Savannah gibt 2 000 Dollar Umzugszuschuss, andere Kleinstädte bieten ein Fahrrad. Schöne, aber strukturschwache Regionen wittern auch im deutschen Hinterland Morgenluft: Der Rhein-Hunsrück-Kreis wirbt mit der Kampagne GelobtesLand.de um Talente, die „der Hektik der Stadt entfliehen“ wollen.
Im Angesicht toter Fußgängerzonen geloben Großstadt-Oberhäupter Besserung: „Building back better“ ist das neue Mantra. Einen „Green New Deal“ verspricht Londons Bürgermeister Sadiq Khan. „Wir müssen das Landleben in die Stadt bringen“, sagt Dario Nardella, Bürgermeister von Florenz und Präsident des Verbands Eurocities: fußläufige Quartiere im „menschlichen Format“, nachhaltig, grün und sozial durchmischt. Mehr Vielfalt, mehr Schönheit, mehr Lebensfreude! Also ungefähr all das, was der Luxemburger Architekt Léon Krier schon seit Jahrzehnten predigt. Zur Broschüre Walkability and Mixed Use, die unlängst von der Prinz-Charles-Stiftung veröffentlicht wurde, hat Krier eine „Checkliste“ für Stadtplaner beigesteuert: keine Trennung mehr von Wohnen, Arbeiten und Erholung; alles Notwendige zu Fuß erreichbar in höchstens zehn Minuten; kein Treppenhaus höher als 100 Stufen. Und vielleicht auch einen Garten mit einem krähendem Hahn.