Aus Angst, die Müßigkeit einer Schriftstellerresidenz ohne Verpflichtung zum Resultat würde im effizienzbesessenen Luxemburg das Klischee des faulenzenden Schriftstellers zu sehr zementieren, wurde im Rahmen des alljährlichen Luxemburger LCB-Stipendiums eine Poetik-Reihe ins Leben gerufen: Als Gegenleistung für das frohe und unbeschwerte Schaffen solle der oder die Stipendiat*in, quasi als Postskriptum der zweimonatigen Residenz, eine Rede zur Literatur anhängen.
Lobenswert an diesem Unterfangen ist aber nicht nur, dass Luxemburger Autor*innen nunmehr über eine Plattform verfügen, um über das eigene Schreiben zu reflektieren, sondern vor allem, dass sich die Reihe recht schnell aus ihrer Verankerung in der Produktionslogik gelöst hat, weil auch Schriftsteller*innen ohne Wannsee-Stipendium begannen, ihre Poetik beim CNL zu veröffentlichen. Wo Samuel Hamens Verhaltensweisen an seinen Aufenthalt im Literarisches Colloquium Berlin gebunden ist, sind Ulrike Bails trosttiere mes ormeaux von jeglicher Verpflichtung befreit.
Die Auftragsarbeit merkt man Hamen eigentlich nur an seiner formalen Verweigerungshaltung an: Anstatt eines Essais veröffentlicht Hamen eine autofiktionale Erzählung, in der der Schreibprozess eine tragende Rolle spielt. Unüblich sind solche metareflexiven Passagen aber auch nicht in nicht-poetologischen literarischen Texten, sodass Hamens Verhaltensweisen durchaus im Rahmen eines Erzählbandes funktionieren würden.
Die Erzählfigur, deren Lebenssituation sich in vielen Aspekten mit der Biografie ihres Schöpfers deckt, geht auf Recherchereise. Eine Reihe an Hindernissen – eine Geiselnahme am Kölner Hauptbahnhof, eine defekte Klimaanlage und laute Schüler im Bus sowie eine Gruppe von Frankfurter Banker, die sich im Rahmen eines Coachings unter Führungskräften im selben Kloster wie der Erzähler eingenistet haben – schiebt sich zwischen ihn und seine Arbeit, die sich zwischen der Forschung und dem Schreiben aufgliedert.
Mit „überschaubarem Erfolg und fragwürdigem Ausgang“ versucht Hamens Erzähler, über einen Dichter zu promovieren, dessen Archiv sich auf der Insel Hombroich befindet. Während seines dritten Rechercheaufenthalts spürt er die Last der „Tatsächlichkeit“, die der Banker nie hinterfragt, weil sich hinter den vermeintlichen Tatsachen eine Weltsicht verbirgt, die seinen Alltag bestätigt und für die die Literatur eventuell als Gegenentwurf fungieren könnte. Solche Überlegungen bettet Hamen in seine kurze Erzählung, in der eine rhetorische Auseinandersetzung mit einem Banker und ein berührendes, versetztes Zusammenkommen mit einer Filmemacherin zum dramaturgischen Höhepunkt werden.
In der Mitte der Erzählung scheitert Hamens Erzähler scheinbar daran, eine beobachte Wirklichkeit – ein paar „Gestalten“ inspizieren ein beackertes Feld nach Restkartoffeln – in Worten festzuhalten und zweifelt somit an seiner Fähigkeit, „etwas zu gestalten […], das die gesamte Sprache ausbietet, um dem Ist-Zustand zu entkommen“. Schön an der Literatur ist aber, dass genau diese Zweifel nicht nur im Schreibprozess absorbiert werden können, sondern gleichzeitig greifbar machen, was es bedeutet, im 21. Jahrhundert als Schriftsteller zu leben.
Unüblich für die nunmehr dreizehn Bände umfassende Reihe ist Hamens Auslotung eines unkonventionellen Formats durchaus nicht: Im Laufe der Zeit haben sich immer mehr Autor*innen vom Korsett des Redeformats befreit, um ihrer Poetik auch die formale Freiheit zu geben, die ihrem Schreiben innewohnt. Das kurze Format spielt dabei den Autor*innen in die Hand. Während Elise Schmit einen Einblick in ihren Werkzeugkasten gab und damit den Fokus auf den Produktionsmechanismus legte, fragmentierte Nora Wagener ihre Poetologie in kurze Prosatexte, die vom pragmatischen Alltag als Schriftstellerin erzählte.
Ulrike Bails trosttiere befinden sich an der Schnittstelle beider Herangehensweisen: Wenn die Dichterin den Verzicht auf Punkt- und Satzzeichen sowie auf Groß- und Kleinschreibung kommentiert – eine Enthierarchisierung, durch die Bedeutungsräume aufgemacht und (zu) offensichtliche Sinnzuschreibungen unmöglich werden – oder ihre Zuneigung für Fachwörter erwähnt, legt sie wie Schmit den Schwerpunkt auf den Kompositionsprozess und verdeutlicht dabei eine Methode, die sie bereit in der Metaphorik ihres vom Servaispreis gekrönten Bandes wie viele faden tief exemplifizierte. Gleichzeitig fragmentiert sie aber, wie Wagener, die eigene Poetik – weil es „kein großes Ganzes gibt“, weil wir „nur Fragmente wahrnehmen“ und ihre Gedichte „fragile Fragmente sind, die ins Offene entlassen.“
„Der Wortkörper ‚ormeau‘ verwandelt sich. Ein Vexierbild. Dichtung entsteht aus Täuschung. Aus Irrtum. Aus Metamorphosen. Aus Familienverhältnissen. Direkten Verwandten und erfundenen. Offenem Patchwork. Aus falschen Freunden und Fantasie. Aus Verschiebungen.“
Ulrike Bails Fragestellung, was Lyrik in Kriegszeiten kann und soll, ist leider genauso andauernd, wie menschliche Kriegsführung selbst – doch das, was sie im Bezug auf den Krieg in der Ukraine über Lyrik in Zeiten der Zerstörung schreibt, ist genauso berührend wie das Fragment, in dem die Dichterin auf eine sehr persönliche Weise Esther Kinskys Satz „nichts kommt einfach davon mit dem leben“ kommentiert. „In eine zerstörtes Haus kann man nicht mehr hineingehen. Das Dach über dem Kopf ist eingestürzt. Grammatik kann den Verlust nicht ordnen. Gebeugte Wörter brechen.“
Gemein ist Ulrike Bail und Samuel Hamen der Prozess, Theorie und Praxis in einer Art Werkstatttext aus der inneren Denkfabrik zu verschmelzen. Verhaltensweisen und trosttiere mes ormeaux sind nicht nur Backstagetexte oder Making Ofs, sondern gleichzeitig Text und Metatext: Das wie wird hier irgendwann zum so – und auch, wenn es auf das wieso keine deutliche Antwort geben kann, so ist der Weg vom Gedankenprozess in all seiner überbordenden Vielschichtigkeit, seinen Momenten des Zweifels und der Orientierungslosigkeit, seinem mutigen Erforschen von etwas, das nie „von vornherein klar“ ist und seinen endlosen Assoziierungen hin zum (niemals wirklich) fertigen Produkt, in dem all dies trotz der assertiven Struktur des „Texts“ immer noch Raum und Widerhall findet, ein überaus spannender – trotz ein paar Stellen, in denen (ich denke an Bails Reflexionen über das Ende des Gedichts und die Rolle des Lesers) einige Gemeinplätze herbeibequemt werden.