Es soll ihr großer Traum gewesen sein. In See zu stechen auf einem großen Robbenschoner,wie in der Geschichte vom "Seebären" Wolf Larsen und dem zart besaiteten Schriftstellers Humphrey van Weyden. Ein Jugendtraum der Schultheater-Truppe Namasté? Ist es nicht der Traum aller großen Jungs, in Seeräubermanier Masten zu erklimmen klettern und in düsteren Kojen rumzupoltern? Die inzwischen groß gewordenen Namasté-Jungs haben sich den Traum in einer aufwändigen Inszenierung erfüllt. In nur drei Vorstellungen spielten sie die Geschichte aus Jack Londons bekanntem Roman Der Seewolf vor einem beeindruckenden Bühnenbild. Diese Geschichte ist anspruchsvoll und bedarf besonderer Schauspielkunst – ein Grund, weshalb die umtriebige Truppe um Alex Reuter nicht nur auf Schüler zurückgriff, sondern auch auf frühere Namasté-Mitglieder, die inzwischen Studenten sind. Das Bemerkenswerteste an der Inszenierung ist denn auch die Leistung der Hauptdarsteller. Ist Jérôme Reuter auch nach wie vor ein bisschen zu jung, um dem gängigen Bild des Rauhbeins Larsen zu entsprechen, hat er dennoch die physische Präsenz und den etwas derben Charme der Charakterfigur. Der "gute" Van Weyden findet seine passende Verkörperung in dem talentierten Jungschauspieler Rupert Kraushofer. Die besten Momente des Namasté-Stücks sind zweifellos die philosophischen Streitgespräche zwischen den beiden Hauptprotagonisten Larsen und Van Weyden. Die Inszenierung schwächelt an den Umständen, die man schon im Vorfeld vermuten konnte. Zum einen an dem höheren Anspruch an sich selbst, den die Truppe mit diesem Projekt definiert hatte. Der mitunter naive Charme des Namasté-Schultheaters ist verflogen. Auf dem Weg zur professionellen Arbeit wartet die Regie mit einigen seltsamen Einfällen auf, wie etwa dem Brückenschlag zur heutigen Literaturkritik mit Auszügen aus dem Literarischen Quartett. Eigentlich überflüssig. Andererseits hat sich die Jugendtheatergruppe Namasté einen wirklich schwer zu inszenierenden US-Klassiker des 20. Jahrhunderts vorgenommen. Immer wieder waren Regisseure, vornehmlich solche aus der Kinowelt, von der rauen Stim¬mung an Bord des glücklosen Schoners und von seiner bunt zusam¬mengewürfelten Besatzung fasziniert. Zwölf Mal wurde der Stoff schon verfilmt, zum ersten Mal bereits 1913, zum letzten Mal 1998. Auf der Leinwand ist die Wiedergabe der erdrückenden Stimmung an Bord mit atmosphärischen Bildern ein Leichtes. Dass Jack Londons Geschichte im letzten Drittel merklich schwächelt und mit dem Eintritt der Liebe als thematischer Aspekt in seichten Kitsch abgleiten kann, zeigen manche der zwölf Verfilmungen. Auch die Theaterinszenierung in Esch plagt sich mit der Länge der Geschichte und nutzt den Bruch der Story zur Pause. So kommt der große Showdown vor merklich ermüdeter Zuschauerkulisse nicht wirklich zum Tragen. Eine drastischere Straffung des Stoffes wäre sicher von Nöten gewesen – wenngleich ein echt schwieriges Unterfangen, will man der komplexen Verstrickung der Themen des 1905 erschienenen Romans Rechnung tragen. So beleuchtet die Namasté-Inszenierung auch einen einstigen Superstar der anglo-amerikanischen Literatur, der mittlerweile fast in Vergessenheit geraten ist. Jack London, Jahrgang 1876, gilt vielen als der populärste Schriftsteller in den Vereinigten Staaten vor dem Ersten Weltkrieg. Er war der bekannteste US-Sozialist seiner Zeit, eine wahrhaft schillernde Persönlichkeit, die die Realisierbarkeit des amerikanischen Traums wie kaum eine zweite verkörperte. Die sehr zahlreichen Texte Londons sind auch Spiegelbild seiner Zeit und seiner eigenen Vita. London selbst war Arbeiter, Aussteiger, Vagabund, Goldgräber und Seefahrer. Als er im Jahre 1905 Der Seewolf herausbringt, wird das Buch von seinen Zeitgenossen unter dem Stern der russischen Februarrevolution gesehen. Und das, obwohl das Buch weniger politisch ist als vorherige Werke Londons. London verarbeitet die damals relativ neue Evolutionstheorie: Wird im direkten Überlebenskampf der Stärkere siegen oder der kultivierte, zivilisierte Mensch? Der gewalttätige Wolf Larsen geht letztendlich zu Grunde, weil ihm die Liebe fehlt. Dem Autor London begegnete während der Arbeit am Seewolf seine große Liebe Charmian, und das veränderte auch den Grundton seiner Werke. Ungemein populär geworden, doch auch ausgebrannt und hoch verschuldet, starb Jack London mit nur 40 Jahren im Jahre 1916.
Der Seewolf, nach einem Originaltext von Jack London, war in drei Vorstellungen in der Kulturfabrik zu sehen, mit der Musik von Mack Murphy [&] The Inmates, unter der Regie von Alex Reuter und Odile Linden, mit einem Bühnenbild von Riadh Jaouadi. In den Hauptrollen: Jérôme Reuter, Rupert Kraushofer und Lynn Grignard.