Kunst am Baum

Zahnstocherberserker

d'Lëtzebuerger Land du 21.10.2011

Heute loben wir die Kunst, einen Baum zu begraben. Es ist die schönste Provokation seit langem. Parodieren wir mal kurz den Großherzoglichen Großmeister der Permanenten Entrüstung. Mit seiner Hackebeilsprache würde er den Künstler Wannes Goetschalckx kurzerhand zerlegen: eine unsägliche Schande, diese sogenannte Kunstaktion, eine katastrophale Verulkung des künstlerischen Anspruchs, eine bodenlose Verarschung der einheimischen Kunstliebhaber, ein belgischer Idiot, der unter dem Applaus der Casino-Verantwortlichen auf einen wehrlosen Baumstamm losgelassen wird, ein weiterer Hochstapler in der langen Reihe von Scharlatanen, die seit Jahren das „Forum für zeitgenössische Kunst“ in der Hauptstadt bevölkern!

Sachte, sachte, Meister. Das sehen wir ganz anders. Wannes Goetschalckx schnitzt aus einem gewaltigen, zwölf Meter langen Pappelstamm einen einzigen Zahnstocher. Was auf den ersten Blick wie eine Metapher aussieht, eine Art kritische Fußnote zur allgegenwärtigen Verschwendung und Wegwerfmentalität, ist in Wirklichkeit eine Verneigung des Künstlers vor der Kraft und der Schönheit der Bäume. Zwei Monate lang misst sich Goetschalckx mit dem Baum. Sein Projekt hat etwas bewegend Archaisches. Schicht um Schicht trägt er den Baumstamm ab, er reduziert ihn praktisch auf Null. Es geht hier nicht um einen zerstörerischen Kampf, eher könnte man von einer langen Abschiedszeremonie sprechen, einem Ritual, das dem Baum Respekt zollt.

Die Frage ist, was uns an diesem friedlichen Kräftemessen so merkwürdig berührt. Der Künstler führt öffentlich vor, wie ihm der Baum seine letzte Energie abfordert. Er greift ausschließlich auf manuelle Hilfsmittel zurück. Natürlich könnte er Maschinen einsetzen, die den Pappelstamm in Windeseile zersplittern und zermahlen würden. Ganz sicher gibt es raffinierte Verfahren, aus einer Pappel dieser Größe Millionen Zahnstocher herzustellen, mit industrieller Präzision. Diesen oberflächlich spektakulären Ansatz lehnt der Künstler ab. Wenn ihm vorschwebt, einen Beweis zu liefern, so kann es nur dieser sein: um einen Baum „kleinzukriegen“, braucht der Mensch einen langen Atem und eine unerschütterliche Geduld. Sofern er sich auf sein eigenes „Handwerk“ verlässt.

Goetschalckxs Vorgehensweise ist im besten Sinne unzeitgemäß und kontraproduktiv. Er sieht den Baum eben nicht aus der Perspektive seiner Verwertbarkeit. Er will nicht demonstrieren, welche „Produkte“ man einem Pappelstamm abgewinnen kann. Seine Kunstaktion ist nutzlos und sinnlos, sie zielt weit über den engen Rahmen des Nützlichkeitsdenkens hinaus. Der Künstler lässt den Baum langsam verschwinden, indem er ihn Tag für Tag bis zur Schmerzgrenze „bearbeitet“. Er rackert sich also ab an einer stillen Materie, deren grandiose Beschaffenheit umso deutlicher wird, je mehr der Künstler an die Grenzen seines physischen Vermögens stößt. Unter dem Strich ist sein Projekt eine Hommage an den toten Baum.

Der Kontrast zu den virtuellen Zauberlehrlingen könnte nicht krasser sein. In einem Umfeld, das zusehends von elektronischen Scheinwelten beherrscht und verfremdet wird, baut Goetschalckx einzig und allein auf die eigenen, bescheidenen Ressourcen. Er will den Pappelstamm nicht „besiegen“ oder „vernichten“. Seine Aktion läuft auf die Erkenntnis hinaus, dass sich ein einzelner Mensch buchstäblich kaputt machen muss, um einen einzelnen Baum zu „bewältigen“. Gewöhnlich werden Bäume mit einer Unachtsamkeit ohnegleichen gefällt und beseitigt. Was bei diesen unsensiblen Abräumungen übersehen wird und verloren geht, rückt der Künstler wieder in den Mittelpunkt, indem er einen einzigen Baum isoliert und in seiner ganzen Pracht zugänglich macht.

Ganz gewiss will Goetschalckx nicht mit einer wohlfeilen Naturphilosophie auftrumpfen und sein Publikum sozusagen auf den Pfad der natürlichen Tugenden schleusen. Das Berührende an seiner Kunstaktion ist auch, dass sie keine greifbare und verwendbare Botschaft hat. Es geht hier nicht darum, etwas zu „lernen“ oder „einzusehen“. Sichtbar wird nur das schwierige, ungleiche, stets gefährdete Verhältnis des Menschen zur Natur. Wenn wir unbedingt etwas „Bereicherndes“ aus dem Kunstprojekt herausfiltern möchten, so vielleicht dies: Am Ende ist alles vergänglich. Das wäre eine taugliche Lehre. Die andere Einsicht lautet: ein einziger Baum kann uns (vielleicht) die bequeme Überheblichkeit austreiben.

Goetschalckxs ironische Pointe, den Baum abzutragen bis zu seinem kleinstmöglichen Überbleibsel, einem winzigen Zahnstocher, ist eine schlaue Absage an alle Kosten-Nutzen-Rechnungen. Jedenfalls ist dieser Zahnstocher zu schade, um nach utilitaristischen Kriterien „zum Einsatz zu kommen“. Er sollte auf keinen Fall zur Gebissreinigug eines Kunstliebhabers benutzt werden. Wannes Goetschalckx sollte ihn einfach verlieren. Ganz zufällig. So könnte er dann jenem Kunstbetrieb, der sicher einen wahnsinnigen Preis für dieses Objekt der Begierde bieten wird, zum Schluss eine baumlange Nase drehen.

Guy Rewenig
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