Realitätssinn

Schnippelfieber

d'Lëtzebuerger Land du 07.10.2011

Heute loben wir den Realitätssinn der Politiker. Woran erkennt man die verdienstvollen Kandidaten im Wahlkampf? Sie haben immer eine Schere dabei. Der Diagnostiker würde sagen: Sie leiden vorübergehend unter einem akuten Schnipp-schnapp-Syndrom. Es könnte ja sein, dass es urplötzlich etwas einzuweihen gibt. Einen kommunalen Springbrunnen zum Beispiel. Oder einen neuen Verteilerautomaten für Hundescheißetüten. Oder einen frischen Maulwurfshaufen im städtischen Park. Plastischer lässt sich die grüne Kompetenz der Stadtoberen nicht demonstrieren. Der Maulwurf fühlt sich wohl mitten in ihrer politischen Landschaft.

Seit Wochen wird landauf landab das Trikoloreband gespannt. Es kommt noch so weit, dass jeder Bürger, der zufällig ein Bäumchen in seinen Schrebergarten pflanzt, im Handumdrehen zum kommunalen Ökologiemeister erklärt wird. Vor dem Trikoloreband ist momentan kein Wähler mehr sicher. Schneller als der Wind sind die Politiker mit ihren Scheren vor Ort. Unter den Pressefotografen gibt es offenbar eine Fraktion, die ebenfalls von Trikolorebändern besessen ist. Sie lichten wahllos alles ab, was die Schere zückt. So laufen die Tageszeitungen über vor Bildern mit Politikern im Schnippelfieber.

Genau an diesem Punkt möchten wir uns heftig beschweren. Von fachgerechtem Schnippeln kann nämlich keine Rede sein. Einerseits drängen sich immer mehr Schnippeler hinter dem Trikoloreband, bis zu vier Minister jeder Couleur, andrerseits ist überhaupt nicht zu erkennen, dass sie den Schnippelakt irgendwie ernstnehmen. Vielleicht können sie gar nicht schnippeln. Wie Salzsäulen stehen sie in ihrem Wahlbezirk und starren in die Kamera. Ob sie nach dem Ablichten tatsächlich schnippeln, ist gar nicht so sicher. Vielleicht stehen sie mit ihren Scheren schon 300 Meter weiter und glotzen wieder penetrant auf den Fotografen. Hauptsache, sie sind auf dem Bild. Im Bild sind sie offenbar schon lange nicht mehr.

Immerhin muss man all diesen wahlkämpfenden Scherenschleifern zugestehen, dass sie sich selber sehr korrekt einschätzen. Sie wissen, dass sie außer Scheren nichts zu bieten haben, weder Argumente, noch Leistungen, noch Pläne. Sie teilen uns Wählern mit: Ich tauge für die Dekoration, ich kann vollendet selbstbewusst in die Kamera grinsen, mehr ist da nicht. Brauchen wir grinsende Scherenschwinger in der Gemeindeverantwortung? Aber natürlich. Da maache s’alt soss näischt zum Onwee.

Auch die zahllosen Gadgets in unseren Briefkästen erzählen uns, dass die Kandidaten im Grunde nicht viel von sich selber halten. Wenn ein Politiker mit einem billigen Plastikschreibstift meine Stimme kaufen will – was übrigens den Tatbestand der aktiven Bestechung erfüllt –, will er mir nur sagen: Ich bin nichts. Ich kann nichts. Mein politisches Talent ist ungefähr so viel wert wie ein billiger Plastikschreibstift. Wenn du mir deine Stimme gibst, wählst du einen Scharlatan, der sich mit schäbigem Nippes in den Gemeinderat hineinmogeln möchte. Ich habe dich doch gewarnt, werter Wähler. Politik auf Gadget-Niveau, mehr ist mit mir nicht zu haben. Ich bin offen. Ich bin selbstkritisch. Meine Kandidatur ist ein Witz. Also beschwere dich bitte nicht im Nachhinein. Was lernen wir daraus? Die Kandidaten haben immerhin ein gesundes Selbsteinschätzungsvermögen. Das wollen wir ihnen hoch anrechnen in der Wahlkabine.

Allerdings gibt es auch Politiker, die im Wahlkampf mit schwerem Geschütz auffahren und auf harmlose Werkzeuge wie Scheren und Plastikschreibstifte gezielt verzichten. Sie binden sich die Trikolore kurzerhand vor die Augen und schlagen blindlings um sich. Der Immigrationsminister Schmit zum Beispiel spricht davon, „der Asyltourismus müsse gebremst werden“. Dass ein sozialdemokratischer Amtsträger überhaupt ein solches Hetzwort in dem Mund nimmt, beweist nur, dass auch ehemalige Hüter der Menschenrechte ihr Süppchen mittlerweile mit braunem Wasser kochen. Offenbar setzt Herr Schmit darauf, sein dramatisches Umfragetief bremsen zu können, wenn er nur forsch genug rechtsradikales Gedankengut aufgreift.

Erinnern wir uns kurz, wie Herr Schmit überhaupt in die Umfrageschlucht hineingeschlittert ist. Er ist über den Versuch gestolpert, seinen eigenen verwöhnten Filius, der sich süffisant über gesetzliche Spielregeln hinwegsetzte, in aller Öffentlichkeit als Opfer von Polizeiwillkür und staatlichem Terror zu präsentieren. Nun ist ja mittlerweile bekannt, dass die Roma, anders als das nette Pflänzchen aus dem Hause Schmit, ganz real in ihren Heimatländern verfolgt und schikaniert werden. Für diese tatsächlich geschundenen Menschen hat der Minister nur das Etikett „Asyltouristen“ übrig. Hätte er noch einen Funken Anstand zu verteidigen, müsste er sich nach diesem grausamen Fauxpas freiwillig aus der Politik verabschieden. Und zwar nicht in Richtung OECD. Obwohl sich in dieser goldenen Oase die prächtigsten Versager aus der europäischen Politik versammeln. Siehe Leterme. Ein sauberer Schnitt ist alles. Mit oder ohne Trikoloreband.

Guy Rewenig
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