Europäische Wettbewerbsfähigkeit

Hinter China, vor Puerto Rico

d'Lëtzebuerger Land vom 14.09.2012

Am 5. September hat das Weltwirtschaftsforum (Wef) seinen Jahresbericht zur Wettbewerbsfähigkeit von 144 Ländern vorgelegt. Vorstandsvorsitzender Klaus Schwab spricht in seinem Vorwort von einer langen Periode wirtschaftlicher Unsicherheit. Er traut sich nicht einmal vorherzusagen, welche Region der Welt mittel- und langfristig die Weltwirtschaft wieder anschieben kann. Zu ungewiss sind ihm die Aussichten in der Euro/Schuldenkrise, die auf ihren Höhepunkt zutreibe, zu unsicher die weitere wirtschaftliche Entwicklung in den USA, China und Indien. Sicher ist ihm nur, dass die Entwicklung immer noch schwieriger und unvorhersehbarer zu verlaufen droht. Umso wichtiger sei es da, dass die Politiker neben den kurzfristigen Maßnahmen, die mittel- und langfristigen Grundlagen für zukünftiges Wirtschaftswachstum legten.
Klaus Schwab betont ausdrücklich, dass der Jahresbericht allen Beteiligten helfen soll, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die Wettbewerbsfähigkeit der Länder wird an Hand von 12 Kriterien berechnet, deren gemeinsames Wirken in jedem Fall größer sei als die Summe der Einzelfaktoren. Das Wef bezeichnet diese Kriterien als Säulen. Auf ihnen ruht wohl das Dach des heutigen wie zukünftigen Wohlstands. Bewertet werden die Institutionen, die Infrastrukturen, die Stabilität des makroökonomischen Umfelds (Staatsschulden), das Gesundheit-  und das Bildungssystem, die Effizienz der Märkte, der Arbeits-, der Finanzmarkt, die Anwendungsbereitschaft für neue Technologien, die Marktgröße (einschließlich der Exportmärkte), sowie die Qualität der Firmen und Firmennetzwerke und die Innovationsfähigkeit.
Auf den ersten Blick steht Europa nicht schlecht da. Unter den ersten zehn tummeln sich nicht weniger als sechs europäische Länder, davon fünf EU- und drei Euroländer. Unter den ersten zwanzig listen zehn europäische Länder, acht gehören davon zur EU, fünf zur Eurozone. Auf den zweiten Blick sieht die Sache anders aus. Das Weltwirtschaftsforum betrachtet alle Länder einzeln. Angesichts der Tatsache, dass die Europäische Union über einen gemeinsamen Markt und über eine Währungsunion verfügt und dass die Unsicherheit in der Weltwirtschaft zu einem nicht geringen Teil auf die mangelnde Stabilität der Eurozone zurückzuführen ist, ist dieser Ansatz möglicherweise von der Realität überholt.
Errechnet man die Durchschnittswerte der EU und der Eurozone, so bekommt die EU 4,74 und die Eurozone 4,78 Punkte. Damit liegen sie hinter China (4,83) und vor Puerto Rico (4,67) auf Platz 29 und 30 der Rangliste. Mit dieser Punktzahl liegen beide gerade noch in der dritten von sechs Klassen. Die höchste mögliche Punktzahl beträgt 7,0. Einzelne Länder wie Finnland (3.), Schweden (4.), die Niederlande (5.) oder Deutschland (6.) mögen exzellent dastehen, insgesamt jedoch lässt die globale Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union und der Eurozone stark zu wünschen übrig. Spanien (36.), Italien (42.) und Portugal (49.) liegen mit den meisten osteuropäischen EU-Staaten in der vierten, die Slowakei (71.), Rumänien (78.) und Griechenland (96.) in der fünften Klasse.
Dass die Vereinigten Staaten von Amerika, die auch über unterschiedlich prosperierende Bundesstaaten verfügen, insgesamt immer noch auf Rang 7 liegen – nach Rang 5 im letzten Bericht – unterstreicht die Notwendigkeit, innerhalb der Europäischen Union die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Bildungspolitik viel stärker zu vereinheitlichen. Diese vier Politikfelder decken in etwa die zwölf vom Weltwirtschaftsforum beschriebenen Säulen der Wettbewerbsfähigkeit ab. Und das gilt keineswegs für die Eurozone allein, sondern für die EU insgesamt.
Wer so auf die wirtschaftlichen Grundlagen der Zukunft Europas schaut, der kann erst ermessen, um wieviel die aktuelle europäische politische Diskussion der Realität hinterherhinkt, wo man glaubt mit einem Stabilitäts- und Fiskalpakt, einer Bankenunion und einer Europäischen Zentralbank, die als Kreditgeber der letzten Zuflucht auftritt, den Kollaps des Euro verhindern und ausreichende Vorsorge für die Zukunft treffen zu können. Wer lediglich als Einzelland seine Chance zur Wohlstandssicherung im 21. Jahrhundert suchen will, der pflanzt nicht nur den Keim der Zerstörung in die Grundlagen der Gemeinschaft, sondern er reklamiert für sein Land auch einen Status wie die Schweiz oder Singapur. Diese Staaten liegen mit 5,72 bzw. 5,67 Punkten auf Platz 1 und 2 der Rangliste.
Die Europäische Union insgesamt, nicht nur die Eurozone, muss viel mehr tun und das auf viel mehr Feldern, um ihren Wohlstand zu sichern und auszubauen. Dazu sind mittelfristig weitergehende Verlagerungen von Souveränität mit einem entsprechenden demokratischen Unterbau auf eine zentrale europäische Ebene notwendig, als sie gerade diskutiert werden. Das kann nur gelingen, wenn es neben dem politischen Willen eine ausreichend gefestigte europäische Identität gibt, die den Laden zusammenhalten kann. Danach sieht es nicht aus. Die Unsicherheit bleibt uns erhalten.

Christoph Nick
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