Heute loben wir die Dissidenten. Es traf sich gut, dass dem chinesischen Menschenrechtsaktivisten Liu Xiaobo der Friedensnobelpreis zugesprochen wurde. Denn genau zu diesem Zeitpunkt war eine riesige Dissidentengruppe aus Luxemburg aufgebrochen, um in Shanghai die chinesischen Diktatoren das Fürchten zu lehren. 123 einheimische Unternehmensvertreter, nebst einer ganzen Phalanx wild entschlossener Staatsrepräsentanten, bliesen im Luxemburger Pavillon von Shanghai zum Aufstand gegen die Menschenrechtsverächter in Peking. Die militante Musik zur Dissidentenmanifestation lieferte eine Jazzband mit dem gefährlichen Namen Largo, geleitet vom weltweit bekannten Dissidenten Gast Waltzing.
Es war die größte Delegation aufmüpfiger Bürger aus dem Großherzogtum, die je eine wahnsinnig teure Protestreise angetreten hat. An ihrem Dissidentenstatus ist nicht zu rütteln. Hierzulande versuchen sie soeben, mit allen Mitteln die Regierung niederzukämpfen. Dissidenter geht’s wohl nicht. „Tout ceci prouve l’intérêt du Luxembourg pour la Chine et une prise de conscience générale pour ce qui s’y passe“, verkündete der elegante Dissidentenführer Pierre Gramegna in einem Voix-Interview. „Ce qui s’y passe“ beschrieb das Nobelpreiskomitee ohne Umschweife so: China beschneidet explizit fundamentale Rechte wie die Rede-, Presse-, Versammlungs-, Verbands- und Demonstrationsfreiheit. Höchste Zeit also, dass die luxemburgische UEL (Union des Emmerdeurs Luxembourgeois) einen demokratischen Anschlag auf das chinesische Eldorado der Unfreiheit startete.
Gelegentlich haben wir gehört, die Luxemburger Unternehmer wollten sich den Chinesen nur zu Füßen werfen und ihnen die Stiefel lecken, damit die wüsten Machthaber sie ein bisschen an ihrem Wahnsinn teilnehmen lassen. Dieser Wahnsinn besteht darin, auf völlig enthemmtes Wirtschaftswachstum zu setzen und den gesamten Planeten über kurz oder lang gegen die Wand zu fahren, ohne Rücksicht auf ökologische Verluste. Auch sollen die Luxemburger Wirtschaftskapitäne es aufgegeben haben, von Menschen und Bürgern zu reden. Wie es heißt, ist in ihren Augen die Welt nur mehr mit Konsumenten bevölkert, also der menschenunwürdigsten Gattungskategorie. Um es mit Herrn Gramegna auf den Punkt zu bringen: „Le marché luxembourgeois en tant que tel n’est qu’une goutte d’eau aux yeux des Chinois, mais le marché unique européen avec ses 500 000 millions de consommateurs leur parle davantage.“ Der wunderbare Lapsus „500 000 millions de consommateurs“, immerhin die siebzigfache Zahl der aktuellen Weltbevölkerung, ist hier wohl der entfesselten Vorfreude aufs goldene Chinageschäft entsprungen.
Nun, all diese feindlich gesinnten Gerüchte gehören in den Bereich der Unterstellung und der Verleumdung. Nicht Konsumenten vertritt die UEL in Shanghai, sondern 500 Millionen demokratiebewusster europäischer Dissidenten. Natürlich waren am luxemburgischen Tag in Shanghai profilierte Brandreden geplant. Dem Wirtschaftsminister Krecké und dem Ausstellungskommissar Goebbels hat es leider die Sprache verschlagen. Man hat uns erklärt, das liege am fatalen Feinstaub, der jahraus jahrein die boomende Metropole überzieht. Diese schadstoffreiche Luft stranguliert sozusagen die Stimmpotenz. Am Ende können die begabten Volkstribune nur noch husten. Wer sträflicher Weise behauptet, Krecké und Goebbels seien nun mal Aushängeschilder einer Partei namens LSAP, deren amtlicher Hauptwohnsitz sich mitten im geräumigen After der CSV befindet, sie würden also vor lauter Opportunismus über die chinesische Gewaltherrschaft schweigen, beweist damit nur, dass er kein Recht hat, sich zu den echten Dissidenten zu zählen. Keiner hat nämlich in Shanghai mehr fatalen Feinstaub geschluckt als Krecké und Goebbels.
Zum Glück hat wenigstens unser Großherzog in Shanghai einen stürmischen Anlauf genommen, um den zu Unrecht verhafteten Liu Xiaobo in Schutz zu nehmen und den chinesischen Gewaltherrschern furios am Zeug zu flicken. Da unser kleiner Herrscher in Sachen Menschenrechte eine höchst kompetente Persönlichkeit ist, wie er mit seinem kompromisslosen Vorstoß in der Euthanasiedebatte bewiesen hat, also selber der aktiven Dissidenz huldigt, können wir uns keinen besseren Anwalt der chinesischen Demokratiefreunde vorstellen.
Allerdings war unser Großherzog so aufgeregt, dass er gleich am Namen des Friedensnobelpreisträgers scheiterte. „Liu Xiaobo“ wollte ihm einfach nicht über die Zunge rutschen. Nach drei stotternden Versuchen steckte unser kleiner Herrscher auf. Warum zum Teufel muss der verehrte Herr Dissident aus China einen derart zungenbrecherischen Namen tragen? Warum heißt er nicht zum Beispiel „Heng“, wie jedermann? Das klingt immerhin chinesisch und flutscht so richtig über die Stimmbänder. Am Ende hat es der Großherzog vorgezogen, mit seiner luxemburgischen Dissidentendelegation luxemburgischen Sekt zu trinken. Schöner kann man die chinesischen Gewalttäter nicht verachten. Die wissen nicht mal, was Crémant ist.