„Indésirables“ aus Übersee - Migrant/innen in Luxemburg am Anfang des 20. Jahrhunderts (4)

Der Landstreicher

d'Lëtzebuerger Land du 29.09.2023

Auch der vierte Teil der Serie, die überseeische Migrant/innen als Teil Luxemburgs und Europas sowie seiner Geschichte präsentiert, handelt von einem ehemaligen Soldaten und auch diesmal geht es um sein Leben nach dem Militärdienst. Giovanni Salerno war allerdings kein Familienvater und seine familiären Bindungen spielen hier kaum eine Rolle, denn er war Landstreicher und führte dadurch, wie damals angenommen wurde, ein Leben ohne soziale Bindungen, da ihn „[…] nicht einmal sanfte Frauenarme, Frauenliebe dauernd fesseln können […]“.1

Die hier behandelte Lebensgeschichte basiert ebenso auf historischen Dokumenten, hauptsächlich aus Fremdenpolizeiberichten des Luxemburger Nationalarchivs sowie des belgischen Staatsarchivs. Die Kommentare des Polizisten wurden zeitgenössischen Zeitungsartikeln über Landstreicher/innen entnommen. So werden nicht nur gängige Vorurteile, sondern auch Widersprüche zwischen Sozialdisziplinierung, Grenzpolitik und überlebensnotwendiger Mobilität vor allem für die unteren Schichten für den Fall Luxemburg auf individueller Ebene aufgezeigt.

Giovanni Salerno (geb. Tunis 1900, Kleinbettingen 1927)

„Ha! Was machst du da?“, sagte Polizeiagent Kieffer und weckte den am Waldrand schlafenden Mann unsanft auf. „Der schläft am helllichten Tag! Da haben wir wohl einen typischen Landstreicher, wie man ihn sich vorstellt, wie ein Porträt aus einem Kriminalmuseum“, dachte er. An diesem Tag regnete es nicht, trotzdem war es bewölkt und recht kalt, zumindest so, dass der Schlafende dem Polizeiagenten in seinem Matrosensweater doch recht leicht bekleidet vorkam. Außerdem schien es, als hätte sich der Mann am Waldrand sein Quartier eingerichtet.

„Wie? Was?“, fragte der nun Erwachende. „Was du da machst, habe ich gefragt!“ Der Mann sah Kieffer an. Kam er ihm nicht etwas bekannt vor? Wo hatte er ihn schon mal gesehen? Es fiel ihm nicht ein. „Ich bin auf dem Weg nach Esch, um dort Arbeit zu suchen. Ich habe mich nur ein bisschen ausgeruht“, versuchte der Mann sich zu verteidigen. Kieffer glaubte ihm keine Sekunde. „Du suchst Arbeit? Und von der harten Arbeitssuche wolltest du dich ausruhen? Haha! Na, ein solches Lotterleben, das lob ich mir! Du hast dir doch hier ein Quartier eingerichtet! Irgendwo hab ich dich doch schonmal gesehen… Zeig mal deinen Ausweis!“ Kieffer sah sich seinen Ausweis an. Dass er einen bei sich trug, damit hatte er nicht gerechnet. „Salerno, der angebliche Italiener aus Marokko. An dich kann ich mich erinnern. Wie lange ist das jetzt her? Vor fünf Jahren glaub ich, da hab ich dich schon mal aufgegriffen. Ein Landstreicher bist du und um nichts hast du dich gebessert. Euereins ist eine wahre Plage! Arbeitsscheue Menschen können wir hier nicht brauchen! Entweder nehm ich dich jetzt mit auf die Station oder ich bringe dich über die Grenze!“ Während er sprach, zeigte er in Richtung der naheliegenden Grenze zu Belgien.

„Nein, nein! Nach Belgien kann ich nicht gehen. Von dort hat mich die Polizei vor drei Tagen erst hierhergebracht! Ich darf wohl nirgendwo sein!? Auch in Frankreich hatte ich bereits mit den Gerichten zu tun…“ Aus seiner Stimme sprach eine Mischung aus Wut und Verzweiflung. „In Italien finde ich keine Arbeit, und wissen Sie Herr Gendarm; Ich bin nicht arbeitsscheu! Ich habe hier bei den Brüdern Giorgetti als Maurer gearbeitet. Weil die dort keine Arbeit mehr haben, wollte ich zurück nach Belgien und nachdem ich da ausgewiesen wurde nach Esch, um dort Arbeit zu suchen. Ich kenne dort Leute, die mir vielleicht helfen können“, protestierte Salerno und fügte die Bitte hinzu, bleiben zu können. „Dass du hierbleiben kannst, kann ich mir nicht vorstellen. Landstreicherei gefährdet die öffentliche Sicherheit. Du kommst jetzt mit auf die Station. Dort schauen wir uns deinen Akt mal an“, entgegnete Kieffer.

Auf der Station angekommen, studierte der Polizeiagent den Akt des Festgenommenen. „Aha! Hab ich‘s mir doch gedacht: Du bist ein unverbesserlicher Sträfling. Wegen Diebstahl und Landstreicherei wurdest du schon mehrmals verhaftet. Du hättest schon längst ausgewiesen werden sollen. Na, wenn du nicht nach Belgien kannst, dann bringen wir dich eben nach Frankreich.“

Ein paar Stunden später wurde Salerno an der Grenze Beles-Rédange abgesetzt und erneut seinem Schicksal überlassen.

„Wer Mutter und Seele verliert, gewinnt nichts“

1930 kann Giovanni Salerno in den belgischen Akten wiedergefunden werden, da er in Charleroi der Trunkenheit, der Rebellion und wegen eines Fehlers seiner Identitätskarte verurteilt wurde. Er erlitt eine kleinere Geld- und eine Gefängnisstrafe von 18 Tagen. Danach verläuft sich seine Spur.

Warum Salerno Landstreicher war, warum er also immer wieder über längere Zeit keinen festen Wohnsitz hatte, kommt aus den Akten nicht klar hervor. Jedenfalls war er nur zeitweise wohnungslos, denn neben der Bezeichnung „unbestimmt“ oder „ohne Wohnsitz“ werden immer wieder Wohnsitze angegeben. Und tatsächlich weist die Definition eines Landstreichers oder einer Landstreicherin als nicht sesshafte Person dahingehend, wie lange die Person nicht-sesshaft sein muss, keine klaren Grenzen auf. Die nicht-sesshaften Phasen in Salernos Leben können entweder als überlebensnotwendig und armutsbedingt gelesen werden, da er zum Beispiel keine Arbeit hatte und auf der Suche danach bereit war, weite Wege zurückzulegen oder keine Miete zahlen konnte, oder aber als frei gewählt, als Form des Ungehorsams gegenüber Disziplinierungs- und Grenzmaßnahmen.2 Schließlich gab es in den späten 1920-er Jahren auch politisch aktive Landstreicherbewegungen, die ihren Höhepunkt 1929 in einem Landstreicherkongress in Stuttgart fanden, organisiert von Gregor Gog, dem sogenannten „König der Vagabunden“. Dabei wurde unter anderem Gleichberechtigung im sozialen Leben und das „Recht auf die Straße“ gefordert, sowie versucht einen Zusammenschluss der „Vagabunden aller Länder“ zu schaffen, der sich etwa gegen behördliche Schikanen richtete.3 Auch wenn sich in Salernos Akten Hinweise auf Armut finden, wie dass er nicht schreiben konnte und „ohne Existenzmittel“ war, schließt dies den aktiven Ungehorsam nicht aus.

Salerno wurde 1900 in Tunesien geboren und war, da seine Eltern aus Pantelleria, einer italienischen Insel zwischen Tunesien und Italien, kamen, italienischer Staatsbürger. Obwohl Tunesien eine französische Kolonie war, gab es Anfang des 20. Jahrhunderts dort doch weit mehr Italiener/innen als Französ/innen. 1918 wurde er ins italienische Militär eingezogen, und war möglicherweise bis 1920 in Südtirol stationiert. Danach ging er nach Tunesien zurück und wurde dort 1920 wegen eines Diebstahls verhaftet und daraufhin ausgewiesen, obwohl Italiener/innen in Tunesien zu dem Zeitpunkt noch gewisse Sonderrechte hatten.4 Ein Jahr später wurde er bereits wieder verhaftet, erst in Casablanca und dann in Paris, diesmal wegen Landstreicherei. Durch die in Salernos Akten immer wieder vorkommende Berufsbezeichnung „Seemann“ lassen sich diese weiten Reisen in recht kurzer Zeit gut erklären. Möglicherweise war er dazwischen auch in Spanien gewesen, da er neben arabisch, italienisch und französisch auch spanisch sprach. Auch seine in den belgischen Akten beschriebenen Tattoos könnten ein Hinweis sowohl auf die Militärtätigkeit als auch auf seine Arbeit als Seemann sein. Auf seinem rechten und linken Arm fanden sich jeweils Frauenbüsten; außerdem hatte er einen Löwen, die Zahl 1918 sowie die Inschriften „Arnesto-Salerno“ und in falschem Italienisch „Wer Mutter und Seele verliert, gewinnt nichts“ tätowiert. Interessant ist, dass in einer der Akten behauptet wird, Salerno sei 1916 in Tunis unter dem Namen Ernesto wegen Diebstahl verhaftet worden. Aufgrund mangelnder Durchstaatlichung könnte es durchaus sein, dass Ernesto ein Bruder oder anderer Verwandter war, auf den das Tattoo hinweist. Gemeinsam mit dem Spruch, der Mutter und Seele in Verbindung bringt, könnte das auf zumindest emotional bestehende, starke soziale Bindungen hinweisen und gegen die Vorstellung eines Lebens ohne soziale Bindungen sprechen. Eine weitere Interpretation könnte ein traumatisches Ereignis sein, zum Beispiel im Militär, dem mit einer Namensänderung begegnet wurde.

Des Weiteren stellt sich die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen dem Seemannsleben und Landstreicherei besteht. Schließlich war auch Gregor Gog Seemann gewesen, beide Lebensweisen sind durch stetige Mobilität geprägt und möglicherweise war es relativ einfach, Arbeit als Seemann zu finden, was sie vielleicht auch für Landstreicher zugänglich machte. Eine weitere Verbindung könnte darin bestehen, dass die Seemänner, nachdem ihr Job endete, in einem unbekannten Land zurückgelassen wurden und schlicht keinen festen Wohnsitz hatten.

Jedenfalls wurden Landstreicher Anfang des 20. Jahrhunderts als Deklassierte, als abnorme Persönlichkeiten angesehen, als Teil des unkontrollierbaren Lumpenproletariats, das es zu disziplinieren galt.5 In vielen europäischen Staaten, wie zum Beispiel Deutschland, den Niederlanden oder Belgien, gab es in den 1920-er Jahren sogenannte Besserungsanstalten, in die Landstreicher gesperrt und zum Arbeiten und zu einer geordneten Lebensführung gezwungen wurden, all das mit dem Ziel, sie zu produktiven Teilen der Gesellschaft zu machen.

Als Salerno im Juni 1922 in Belgien abermals wegen Landstreicherei verhaftet wurde, wurde er in eine solche Anstalt gesperrt, wahrscheinlich Merksplas, und wenig später das erste Mal nach Luxemburg ausgewiesen. In Luxemburg gab es solche Anstalten nicht, wenn auch heftig darüber diskutiert wurde, spezifische Anstalten einzuführen. So schrieb zum Beispiel der Verwalter des Grundgefängnisses 1926: „Wir stellen Tag für Tag fest, dass unter den Vagabunden und chronischen Bettlern, Degenerierten und Müßiggängern, neurasthenischen Faulenzer, Sozialparasiten, in irgendeiner Art Unvollkommenen, in großer Zahl Diebe und Einbrecher zu finden sind, die es im Interesse des Sozialschutzes und der Vorbeugung der moralischen Ansteckung, so lange wie möglich aus dem Verkehr zu ziehen gilt.“6 Er sprach damit bereits verschiedenste Zuschreibungen Landstreichern gegenüber an; die angebliche Veranlagung zur Kriminalität und zum Betteln, sowie die angebliche Arbeitsscheu. Neben diesen negativen Zuschreibungen existierte auch ein romantisiertes Bild der glücklichen Landstreicher, die anders als die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Zwängen, in voller Freiheit lebten.7 Der Vorstellung der selbstverschuldeten oder gewählten Erwerbslosigkeit, bzw. einer diesbezüglichen Veranlagung, ist allerdings die massive Arbeitslosigkeit der Zwischenkriegszeit entgegenzusetzen. Auch für Salerno, der immer wieder Gelegenheitsarbeiten nachging, unter anderem als Maurer bei den Gebrüdern Giorgetti, einer Baufirma in Luxemburg-Stadt, war es wohl schwierig ein sicheres Einkommen zu finden. Die kleineren Diebstähle für die Salerno verhaftet wurde können ebenso als armutsbedingt und subsistenzsichernd bewertet werden.8

Nachdem Salerno 1922 in Luxemburg über die Grenze gebracht worden war, wurde er nach einer kurzen Phase der Arbeit bereits im selben Jahr wegen Landstreicherei über die Grenze bei Esch/Alzette nach Frankreich ausgewiesen. Obwohl er auch aus Belgien ausgewiesen worden war, taucht Salerno in den belgischen Akten immer wieder in verschiedenen Städten auf, entweder zwecks Anmeldung oder wegen kleinerer Gefängnisstrafen aufgrund von Diebstählen. 1926 wurde er abermals aus Belgien ausgewiesen. Er ging daraufhin erneut nach Luxemburg und arbeitete wie schon 1922 ein paar Monate bei den Gebrüdern Giorgetti als Maurer. Als er Anfang 1927 erfuhr, dass er von neuem aus Luxemburg ausgewiesen werden sollte, pendelte er immer wieder zwischen Belgien und Luxemburg hin und her und wurde wie schon zuvor von Belgien nach Luxemburg abgeschoben. Drei Tage später wurde er in Kleinbettingen aufgegriffen und eingesperrt, da er gegen seine Ausweisung verstoßen hatte, woraufhin er der luxemburgischen Polizei erklärte, dass er doch von der belgischen Polizei nach Luxemburg gebracht worden wäre.

Zum einen kann hier gesehen werden, wie bestimmte Migrant/innen fast nirgends geduldet wurden und ihnen ihr Leben praktisch unmöglich gemacht wurde. Zum anderen findet sich auch die These, dass Landstreicher/innen keine besondere Achtung für nationale Grenzregime hatten und diese durch ihre häufigen Grenzübertritte in Frage stellten, bestätigt. Ebenso kann angenommen werden, dass schon damals die Migration mittelloser Personen als Problem betrachtet wurde, während „Reisen“ für vermögende, europäische Männer, kein Problem war und sogar, etwa zum Zweck eines Studiums oder zur Persönlichkeitsformung, ihren Status nur bestätigte.9 Geographische Mobilität und die damit verbundenen Lebensrealitäten und Erfahrungen lassen also Intersektionen von Herkunft, Geschlecht und sozialem Status erkennen..

* Julia Harnoncourt forscht zu zeitgenössischer Geschichte am C2DH


1 Zitat aus der Filmbeschreibung zu „Le Chemineau“ (1926), in: Obermosel-Zeitung, 7.1.1928, 3.
2 Rolshoven, Johanna (2012): Das Figurativ der Vagabondage. In: Maria Maierhofer und Johanna Rolshoven (Hg.): Das Figurativ der Vagabondage. Kulturanalysen mobiler Lebensweisen. Bielefeld: transcript (Kultur und soziale Praxis), 15–29, 19.
3 Ein seltsamer Kongreß. 5 000 organisierte Vagabunden treffen sich in Stuttgart, in: Obermosel-Zeitung 25.05.1929, 2; Spät, Patrick, „Generalstreik ein Leben lang“. In: Der Spiegel 16.10.2019, unter https://www.spiegel.de/geschichte/weimarer-republik-gregor-gog-koenig-der-vagabunden-a-1291713.html
4 Di Michele, Andrea (2010): Diesseits und jenseits der Alpen: Italienische Expansionspläne in Tirol (1918-1920). In: Geschichte und Region/Storia e regione 19 (1), 145–171; Pröbster, Edgar (1927): Frankreich und Italien in Tunesien. In: Zeitschrift für Politik 16, 80–85.
5 Wimmer, Christopher (2021): Lumpenproletariat. Die Unterklassen zwischen Diffamierung und revolutionärer Handlungsmacht. Stuttgart: Schmetterling. 17, 41; Wahlhütter, Isabella (2012): Vagabondage verstehen. Historische Verhältnisse vagierender Männer und Frauen. In: Maierhofer, Rolshoven (Hg.): Das Figurativ der Vagabondage, 31–45, 45.
6 Ensch, La Réforme de nos services pénitentiaires, in: L’Indépendance luxembourgeoise 10.8.26, 3. Original auf Französisch, übersetzt von der Autorin.
7 Fähnders, Walter (2012): Literarische Vagabundenfiguren In: Maierhofer, Rolshoven (Hg.): Das Figurativ der Vagabondage, 163–184.
8 Rolshoven (2012): 18-21; Harnoncourt, Julia (2022): ArbeiterInnenhaushalte und Konsum zwischen Industrialisierung und Erstem Weltkrieg.” Hemecht 74 (2), 199–241.
9 Weber, Josiane (2013): Familien der Oberschicht in Luxemburg. Elitenbildung & Lebenswelten 1850 - 1900. Luxemburg: Ed. Binsfeld, 501.

Julia Harnoncourt
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