Gemeinsam mit seinem Bruder Rob hat er die Cité judiciaire entworfen. Für den Prince of Wales hat er die Musterstadt Poundbury konzipiert. Nun sitzt sein einstiger Förderer auf dem britischen Thron. Ein Porträt von Léon Krier

„Do what Leo tells you”

Léon Krier (Mitte) 2016 beim Besuch  der königlichen Familie in Poundbury
Photo: Justin Tallis / AFP
d'Lëtzebuerger Land du 25.11.2022

Vor zwei Jahren stand Léon Krier im Carré Rotondes am Sprechpult und hielt im Rahmen eines Konferenz-Zyklus des Luxembourg Center for Architecture (Luca) und der Uni Luxemburg einen Vortrag über die polyzentrische Stadt. Dabei tat Krier, was er erwartungsgemäß immer tut, wenn man dem konservativen Architekten die Gelegenheit dazu bietet: Er holte erst einmal zu einem Rundumschlag aus, gegen die zeitgenössische Architektur. Mit seinem Bruder Rob zählt Léon Krier zu den radikalsten Vertretern des New Urbanism, der sich gegen die vom Modernismus geforderte Aufteilung von Städten in Funktionszonen richtet und sich für eine Rückkehr zur begehbaren „europäischen Stadt“, einem nicht-industriellen Bauen und einer historischen Optik der Innenstädte stark macht. Bereits in den 70ern trat Krier öffentlich gegen die sogenannte „Brüsselisierung“ ein, unter der städtebauliche Eingriffe in die historisch gewachsenen Städte verstanden werden, und das auch in Luxemburg. Die modernistische Architektur, beispielsweise der EU-Institutionen, bezeichnet er als kaum symbolträchtig. Kriers Postulat: Die „führenden Klassen“ sowie die Architekten hätten die „Kultur der Schönheit“ vernachlässigt. In der Nachkriegszeit sei alles, was auch nur dem Anschein nach an klassische Architektur erinnerte, als „faschistisch“ abgetan worden.

Allerdings hätte Kriers – einigen zufolge „populistischer“ – Schönheitsbegriff ihn fast einmal seine Karriere gekostet. Damals nämlich, als er sich aufgrund der von ihm beobachteten Abwehrhaltung näher mit den letzten Ausläufen des Klassizismus und schließlich mit Nazi-Architektur auseinanderzusetzen begann. Seine 1985 unter Mitwirkung des NS-Kriegsverbrechers Albert Speer veröffentlichte Monografie über Hitlers Architekt stieß auf allgemeines Entsetzen – und kostete Krier gleich mehrere Aufträge. Weite Teile der Architekturszene gingen auf Distanz. Eigenen Angaben zufolge stürzte Krier der Skandal sogar in eine Depression. Speer hatte für seine Umgestaltung Berlins die „zwangsweis[e] Ausmietung“ von Juden aus schätzungsweise 15 000 bis 18 000 Wohnungen beantragt. Für seine Bauprojekte waren KZs in der Nähe von Steinbrüchen errichtet worden. Krier aber bezeichnete ihn als einen der größten Architekten des 20. Jahrhunderts. Den Unterwerfungsanspruch von Speers Bauten spürt Krier nicht. Wahre Architektur sei immer politisch, meinte er einmal. Nicht der Klassizismus trage Schuld am Faschismus, sondern die Industrie. „Schönheit“ sei das Einzige, was „kriminelle Systeme“ transzendiere. Wer sich seiner Bewunderung Speers wegen schäme, müsse dies ebenso im Antlitz römischer oder christlicher Architektur tun, so Krier.

Tatsächlich dürfte die Frage nach der Akzeptanz von klassischer Architektur nach Auschwitz für viele Gegner des Modernismus einmal im Raum gestanden haben, auch für jene, die einige Jahre zuvor begonnen hatten, sich um den für seinen Hass auf alles Modernistische bekannten Prince of Wales zu versammeln. Charles war es gelungen, gleich mehrere Bauvorhaben in London durch öffentliche Stellungnahmen zu torpedieren und somit unter den Architekten Angst und Schrecken zu verbreiten. Es sei kein Zufall, so das New York Magazine im Jahr 1990, dass Charles Mitte der 80er Jahre die Architekturfrage für sich entdeckt habe. Der Prinz habe damals „den Tiefpunkt seiner persönlichen Unzufriedenheit und mangelnden öffentlichen Wertschätzung“ erreicht. „Nun da Charles geheiratet und einen Erben produziert hatte (die beiden einzigen Aufgaben, die wirklich von ihm verlangt waren), war er zur Erkenntnis gekommen, dass es für ihn nichts weiter zu tun gäbe, bis zu dem Tag, an dem seine Mutter sterben und er König würde“. Wie Charles allerdings selbst 2009 in einer Rede zum 175-jährigen Bestehen des Royal Institute of British Architects verriet, sei sein Interesse an Architektur während seiner Teenager-Jahre unter dem Eindruck der Zerstörung britischer Städte durch modernistische Bauten geweckt worden.

Auch bei Léon Krier gründet das eigene Architekturverständnis auf einem Verlustgefühl. Mit seinen Geschwistern wächst Krier in einer über dem familieneigenen Schneiderladen gelegenen Wohnung in der Rue du Fort Neipperg im Garer Viertel auf. Von der anderen Straßenseite her dringt das Läuten der Schulglocke bis in den Garten hinein. Die Mutter ist Pianistin. Im Erdgeschoss des auf Herren- und Damenmode, aber auch liturgische Gewänder spezialisierten Geschäfts, empfängt der Vater die Kundschaft, unter der sich auch der Erzbischof befindet. Aus der darüber gelegenen Wohnung fällt der Blick über die Dächer der angrenzenden Gebäude, darunter etwa die Al Molkerei, auf die vom Krieg unversehrt gebliebene Hauptstadt. Vom Balkon aus filmt der Vater die Sonnenuntergänge.

„Alles, was ich jetzt tue, habe ich in dieser Stadt gelernt“, meint Léon Krier rückblickend: „Da ist das 33 Hektar große Altstadtviertel, das für Menschen maßgeschneidert ist, mit Entfernungen, die sich mühelos an einem Tag bewältigen lassen; auch vertikal, durch Häuser mit drei, höchstens vier Stockwerken“. Im Luxemburg der Nachkriegszeit verfolgen die Gebrüder Krier am Beispiel Echternachs, den historisch getreuen Wiederaufbau der während dem Krieg beschädigten Altstadt. Während der Ferien reist die Familie bevorzugt nach Frankreich und in die Schweiz, wo man sich „schöne Gebäude“ anschaut. Deutschland kommt als Reiseziel nicht in Betracht. „Architektur war kein Thema, aber sie hatte einen Platz“, hält Krier fest. Von Kriers Kindheitsviertel ist heute so gut wie nichts mehr erhalten. Zuerst verschwand die geliebte Linden-Allee, die sich vom Boulevard d’Avranches bis nach Hollerich erstreckte.

Krier, der den architektonischen Kahlschlag seiner Heimatstadt, die Zerstörung des Boulevard Royal und die Erschließung des Kirchbergs aus der Ferne erlebt, überwirft sich an der Universität Stuttgart mit seinem Lehrer, dem ehemaligen Bauhaus- und Itten-Schüler Maximilian Debus, der eine von ihm gezeichnete Siedlung als „faschistisch“ bezeichnet. Krier verlässt Stuttgart nach einem Jahr in Richtung Straßburg. Schließlich gelingt ihm als Autodidakt der Wechsel zu James Stirling, damals einer der angesehensten Architekten, für den er von 1968 bis 1974 in London tätig ist. (1971 wechselt Krier kurz zu Josef Paul Kleihues nach Berlin, kehrt aber bald darauf zu Stirling zurück.) Ab 1974 lebt er freischaffend und tritt erstmals publizistisch auf. Nach einer Professur an der Architectural Association in London gelangt Krier an das Royal College of Art, danach an die Princeton University. Ab 1982 ist er Professor an der Virginia University. 1985, im gleichen Jahr wo sein Speer-Buch erscheint, widmet das Museum of Modern Art (Moma) in New York Krier eine Einzelausstellung.

Den Prince of Wales lernt Léon Krier zwei Jahre später auf einer Ausstellung zu neoklassizistischer Architektur der Gegenwart mit dem Titel Real Architecture in London kennen. Krier, der zu diesem Zeitpunkt bei Spitalfields Market ein Bauprojekt betreut, ist beeindruckt. „Er war bestens informiert und bot mir an, sein persönlicher Berater zu werden“, erinnert er sich. Für den Prinzen verfasst der Luxemburger ab sofort „kurze Texte von etwa einer Seite“, beispielsweise zu Hochhausprojekten, Bauhandwerk oder Zonierung. Er gehört einer Gruppe von Beratern an, darunter anfangs noch Modernisten wie Richard Rogers, dessen Wohnprojekt in Chelsea Prince Charles später verhindern sollte.

Einige Jahre nach der ersten Begegnung, soll Charles dann einmal, da alle im Garten von Highgrove House, dem Landsitz des Prinzen, versammelt waren, die Runde mit den Worten „How do I build Krier Town? “, unterbrochen haben. Krier, der zu diesem Zeitpunkt zwar bereits den Masterplan für Poundbury (eine im Südwesten Englands zu errichtende Modellstadt, die auf Charles architektonischen Grundsätzen beruht) entworfen hatte, erinnert sich an das allgemeine Stirnrunzeln unter den Teilnehmern. „Krier Town! … What Leo is doing“, so Charles der über die bis dahin vorgelegten Bauprojekte mehr als unzufrieden war. Seiner Vision von Poundbury kam dem Prinzen zufolge nur einer am nächsten, und das war Léon Krier.

Von traditionellen Baumethoden, so Krier, hätten die zu dem damaligen Zeitpunkt beteiligten Architekten nämlich „keine Ahnung“ gehabt. Christopher Jonas, Chef der mittlerweile von Deloitte übernommenen Immobilienfirma Driver Jonas, deren herrschaftliche Büros am „Trafalgar Square“ mitten in London lagen, wie Krier nicht ohne Stolz unterstreicht, zeigte sich bereit, „some of Mister Kriers ideas on board“ zu nehmen. Darauf angeblich Charles: „Christopher, you are not going to take on board, you are going to do what Leo tells you“.

Wenige Zeit später wurde Krier schließlich zum Projektleiter von Poundbury ernannt. Allerdings hätte damit der „Krieg“ begonnen, wie Krier rückblickend meint. Gleich im Anschluss der ersten Baubegutachtung sei er vor das „Prince’s Council“ zitiert worden. Driver Jonas hatte feststellen lassen, dass die erste Bauphase von Poundbury unter Kriers Leitung einen Verlust von mehreren Millionen Pfund eingefahren hätte. „Ich reiste nach Frankreich, wo ich während zwei Wochen die Berechnungen überprüfte. Alles war frei erfunden“, verteidigt sich Krier. Im persönlichen Gespräch sei es ihm dann gelungen, den Prinzen von der Bodenlosigkeit der Vorwürfe zu überzeugen. Als schließlich das Herzogtum Cornwall, Eigentümer des Grundstücks, auch noch mit einem Gegenentwurf für Poundbury aufkam, habe der Prince of Wales wissen lassen, dass ein derartiges Projekt nicht in Frage käme und in jedem Fall Léon Krier zur Begutachtung vorzulegen sei. Damit stand Poundbury nichts mehr im Wege.

Als Charles III Anfang September auf den britischen Thron gelangte, überschlugen sich die internationalen Medien regelrecht mit Berichten über die englische Retortenstadt. Poundbury wurde mal als „funktionierende Gemeinschaft“, mal als „feudales Disneyland“ beschrieben. Der Verweis ist gar nicht so abwegig: Disney hat in den USA ganze Siedlungen nach den Prinzipien des New Urbanism errichten lassen. Krier selbst hat für den Medienriesen bei Paris die Brasserie L’Agape entworfen. Das exklusive „Seaside“, eine „master-planned community“ in Florida, die u.a. von Kriers amerikanischem Freund und Förderer, dem Architekten Andrés Duany geplant wurde und ein „Krier House“ beherbergt, diente pikanterweise als Drehort für Peter Weirs The Truman Show. Duany selbst ließ sich im Februar dieses Jahres als Vertreter des New Urbanism für Tucker Carlsons Sendung „Ugly buildings“ interviewen.

Es wäre ein Leichtes, das Wertvolle am New Urbanism und damit auch an seinem Vordenker Krier zu verkennen. Aufgrund eines schwer begreiflichen, bisweilen kitschigen Festhaltens an einer vergangenen, weiterhin den Machtanspruch der Elite hervorhebenden Stilsprache. Aber auch wegen des mittlerweile immer häufiger feststellbaren, von jeglichen gemeinnützigen Betrachtungen losgelösten Opportunismus. Der Architekt Stephan Trüby, der dem privat stets sehr höflich auftretenden Krier 2018 vorwarf, als Teil einer rechten Verschwörung Bürgerinitiativen zum Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt unterwandert zu haben, ist mittlerweile auf ein Gesprächsangebot Kriers eingegangen. Er hat den Architekten interviewt und sogar einen kleinen Film über Kriers vielleicht ehrgeizigstes Projekt „Atlantis“ gedreht, mit dem er in den 80er Jahren die akademische Elite auf Teneriffa versammeln wollte. Wie Trüby feststellt, verbreitet Krier „in Anbetracht der Anti-Corona-Maßnahmen (...) Verschwörungsmythen, wonach Covid-19 ein Plan von ‚Davos‘ und Bill Gates seien“. Trüby zufolge habe sich bei Krier „die einstige Hoffnung auf rettende Eliten ins Gegenteil verkehrt“. Auch ein Denkansporn.

Frédéric Braun
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