Originelle Lügen

Katalog der Ausreden

d'Lëtzebuerger Land vom 07.10.2010

Heute loben wir die originellen Lügen. Wir hatten immer den Eindruck: der Name „Contador“ klingt wie ein Medikament. Es verhält sich aber weit banaler. „Contador“ heißt ganz einfach „Zähler“. Herr Alberto Zähler hat eine schöne Geschichte erfunden, um die Präsenz des Dopingmittels Clenbuterol in seinem Blut zu erklären. An einem Ruhetag in der Tour de France konnte er einem saftigen Stück Fleisch nicht widerstehen. Schon war er infiziert.

Nun, diese Geschichte ist nicht originell und zudem gefährlich. Wenn es so einfach ist, sich mit leistungssteigernden, aber verbotenen Stoffen vollzupumpen, werden wir demnächst unser blaues Fahrradwunder erleben. Jeder Möchtegernradler wird sich munter an einem Steak vergreifen und anschließend den Tourmalet genau so ungestüm hinauffliegen wie die Herren Zähler und Schleck. Bald wird man die Profis nicht mehr von den Amateuren unterscheiden können. Das Fleischdoping entwickelt sich zum Volkssport, in den Haarnadelkurven des Tourmalet werden die Weltrekorde nur so purzeln. In anderen Worten: die Tour de France gerät plötzlich zur überflüssigsten Veranstaltung der Welt. Denn die mit Lendenfilets und prachtvollen Buletten aus der pharmazeutischen Fleischerei Aufgepäppelten werden jeden Tag Zähler und Schleck spielen. Und zwar mit durchschlagendem Erfolg.

Für die Fleischindustrie mag Herrn Zählers schöne Geschichte eine großartige Werbung sein. Wir allerdings bedauern, dass der feinsinnige Spanier sich kein subtileres Märchen einfallen ließ. Wieso begab er sich sofort in die Niederungen der Fleischeslust? Haben wir begeisterten Anhänger des Profiradsports nicht etwa ein Anrecht auf romantischere Legenden? Herr Zähler hätte zum Beispiel eine erbauliche Naturparabel erzählen können. Am Ruhetag erfasste ihn ein unstillbares Verlangen nach Wiesen und Weiden, Wäldern und Auen. Inmitten der bukolischen Idylle wurde er plötzlich von einer störrischen Biene attackiert. Jeder weiß, dass die Bienen heutzutage hochgradig verseucht sind, fliegende Bomben aus den geheimen Giftlabors der Industrie. Summ, summ, summ, Bienchen summ herum, ein kurzer Stich, und schon wuchsen Herrn Zähler Flügel. Mit Bienenpower hinein in die nächste Etappe – so war es, und nicht anders. Was kann Herr Zähler für die abrupten Wunder der Natur?

Oder könnte es sein, dass sich Herr Zähler am Ruhetag in einen Naturbezirk verlaufen hat, wo es überhaupt keine Bienen mehr gab? Wir lesen ja täglich, dass die Bienen weltweit einem mysteriösen Massensterben verfallen sind. Wahrscheinlich krepieren sie an unserer herrlich versauten Umwelt. Ja, dann müssen wir Herrn Zählers Märchen ein bisschen revidieren. Nicht von einer Biene wurde er beim entspannenden Wandern überfallen, sondern von einer höchst erregten Radsportanhängerin. Einer vor lauter Zähler-Bewunderung zappelnden Fanatikerin. Wir wissen ja, dass diese liebestollen Frauen sich heim-tückisch in der Natur verstecken, um das Objekt ihrer Radsportbegierde im ungünstigsten Augenblick am Wickel zu packen.

Ein wichtiges, wenn nicht gar Ausschlag gebendes Detail sollten wir nicht vergessen. Die weiblichen fans von Herrn Zähler versetzen sich gern in Einklang mit ihren radelnden Idol. Dem gespritzten Radprofi nähern sie sich mit malerisch aufgespritzten Lippen. Wenn dieses reifendick geblähte Mundwerk zu einem begeisterten Kuss ausholt, ist Herr Zähler sogleich ein Vogel für die Katz. Denn die chirurgisch verbesserten Kusslippen enthalten mehr Clenbuterol als ein ganzes Dutzend saftiger Steaks. Je nach Grad der Euphorie wirkt ein einziger Kuss wie eine gewaltige Transfusion. Herr Zähler ist also eine Beute der überschwänglichen Fremdeinwirkung geworden. So war es, und nicht anders. Leider hat sich die draufgängerische Radsportamazone längst wieder ins Gebüsch verkrochen. Und lauert auf den nächsten champ.

Dürfen wir hoffen, mit diesen glaubwürdigen Hinweisen zur schnellen Aufklärung der Dopingaffäre um Herrn Zähler beigetragen zu haben? All den unverantwortlichen Spekulanten, die jetzt auch Herrn Schleck ins Spiel bringen möchten und nur darauf warten, eine Clenbuterol-Story Nummer zwei aufzutischen, möchten wir an dieser Stelle heftigst in die Parade fahren. Herr Schleck kann gar nicht gedopt sein, und zwar aus zwei einleuchtenden Gründen. Zum einen gehört er zum intelligentesten Volk der Welt. Über uns Luxemburger kann man lästern, soviel man will, unbestreitbar bleibt: unsere unschlagbare Intelligenz macht uns für alle Ewigkeit immun gegen die schäbigen Versuchungen des organisierten Betrugs.

Zum andern ist Herr Schleck ein eingefleischter Vegetarier. Er kommt also weder mit Steaks noch mit aufgespritzten Frauenlippen in Berührung. Vielmehr huldigt er den reinen Blüten und Früchten der Natur. Zu Hopfen und Malz etwa, zwei überaus lieblichen Pflänzchen, pflegt er eine geradezu symbiotische Beziehung. Hoffentlich verirrt sich nie eine verseuchte Biene in seinem Bierglas. Es wäre nicht auszudenken.

Guy Rewenig
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