Der Begriff „Vorstadtkino“ hat sich besonders in der französischen Kinematografie über die vergangenen Jahrzehnte herausgebildet. Soziale und politische Spannungen der zeitgenössischen französischen Gesellschaft kristallisieren sich im Vorstadtkino, das gegenwartsbezogen und sozialkritisch die Perspektive der unterprivilegierten Schichten Frankreichs in den Blick nimmt.
Weil der Begriff ganz verschiedene Ausformungen annimmt, besteht heute kaum Einigkeit darüber, worauf genau er sich bezieht. „Vorstadtkino“ ist weder wirklich Genre noch Bewegung, weder Fiktion noch Dokumentation – gerade die Verwischung der Trennlinien ist ihm ein Anliegen. Spätestens seit den 1970er Jahren haben sich die Vorstadtfilme in diversen Ausprägungen in einem Ensemble wiedergefunden. Labyrinthartige Hochhaus-Formationen waren nicht immer synonymer Ausdruck für ein soziales Unbehagen, eine tiefsitzende Misere, vor allem der Jugend, oder Schauplatz zunehmender Drogenkriminalität. Eric Rohmer etwa wählte für Les Nuits de la pleine lune (1984) oder Quatre Aventures de Reinette et Mirabelle (1987) eine ganz zurückgenommene Haltung; dem beobachtenden Registrieren dieser Jugendgeschichten gilt da das Augenmerk.
Als besonders prägend für den französischen Spielfilm sollte sich La haine (1995) von Mathieu Kassovitz erweisen. Für Kassovitz ist gerade die Innenansicht, das Schildern des Vorstadtlebens aus der unmittelbaren inneren Erlebensperspektive so bedeutsam: Selten hat ein populärer französischer Film sich der desolaten und perspektivlosen Jugend derart veristisch und so ausführlich angenommen, wie La haine. Erzählt wird von drei Freunden in einem Pariser Vorort, die mit den sozialen Problemen und der Polizeigewalt in ihrem Viertel konfrontiert sind. Der Film zeigt ihre Erlebnisse und Konflikte während eines einzigen Tages, die Auswirkungen von Rassismus, Armut und Ungerechtigkeit. Die harschen Schwarzweiß-Aufnahmen, die frei umherschweifende Kamera, das überaus körperbetonte und naturalistische Schauspiel von Vincent Cassel sowie die Natürlichkeit der Sprache machten den veristischen Ansatz von La haine im Wesentlichen aus. Es folgten Filme wie De bruit et de fureur (Jean-Claude Brisseau, 1988) oder L’esquive (Abdellatif Kechiche, 2003), die jeweils aus der Jugendperspektive vom Vorstadtleben erzählten, mal mehr, mal weniger gefühls- und gewaltbetont, in allen Fällen aber dem Willen zur Milieustudie verpflichtet.
Ladj Ly und Romain Gavras
Heute ist es vor allem das Künstlerkollektiv um Ladj Ly und Romain Gavras, das das Bild des Vorstadtlebens im französischen Kino weiter prägt. Lys Les misérables von 2019 war in Cannes schlagartig ein Erfolg, der Film wurde mit dem Kritikerpreis ausgezeichnet. Darin zeichnet Ly die Vorstadt als ein Gelände der Gleichgewichte und der widersprüchlichen Kräfte, die nicht die gleichen Interessen verfolgen: Ly bindet sein Publikum an die unmittelbare Erlebniswelt des Marseiller Polizisten Stéphane (Damien Bonnard), der für eine moralisch integre Justiz steht. Über seinen Blick wird das Publikum mit der Kriminalität der Vorstadt konfrontiert. Denn Stéphane wird einem ungleichen Polizistenpaar zugeteilt, dem ruhigen Gwada (Djebril Zonga) und dem draufgängerischen Chris (Alexis Manenti), die gemeinsam im Vorort Streife fahren. Er erlebt die Welt der Banlieue als eine des absoluten und unbedingten Erhaltens von Macht: Durch Schikane, Drangsalierung und Korruption hat sich hier eine ganz eigenwillige Form von Recht und Ordnung etabliert – an der aber, so muss Stéphane schmerzlich feststellen, die beiden Polizisten erheblichen Anteil haben. Das amerikanische Vorbild dieses Films ist zweifellos Training Day (2001) von Antoine Fuqua.
Das Grundmuster vom pflichtbewussten Ordnungshüter, der feststellen muss, dass die polizeilichen Vorschriften nicht mehr greifen, ist weithin bekannt, doch an der faszinierenden Zurschaustellung eines zwielichtigen Polizisten ist Ly wenig interessiert. Ihm geht es mehr darum, zu zeigen, an einem solchen Ort jeder sein Territorium behauptet. Da gibt es Gruppenbildungen, die sich über Ethnie ergeben. Dass Ly selber in der Vorstadt aufwuchs, mag eine Erklärung für den ungemein starken Sogeffekt sein, den sein Film hat und sich besonders aus dem halbdokumentarischen Charakter seiner Bilder entwickelt: Es sind die Handkamera, die langen Plansequenzen aus den immergleichen Aufnahmewinkeln und die spürbar repetitive Innenansicht des Polizeifahrzeugs, welche die hermetische Geschlossenheit dieses Mikrokosmos betonen – den der Filmemacher aber in seiner Vielfalt und Komplexität darzustellen versucht.
Athena von Romain Gavras nutzt ebenfalls die Einheit von Raum, Zeit und Ort und führt zudem medias res in eine Handlung ein, deren initiales Konfliktmoment bereits in der Vergangenheit liegt und nahezu als Aufhänger dient. Und doch ist dieses Ereignis im hors champ wohl das bedeutendste Merkmal, das die Verbindung zu Lys Film herstellt. An Athena wirkte Ly als Drehbuchautor mit. Die Polizeigewalt, die in Les misérables das Hauptereignis der Handlung ist, nach dem alle Figuren operieren, wird in Athena ausgespart: Ein Video geht da um, das die Tötung des jungen Idir durch drei Polizisten in dem fiktiven Pariser Stadtviertel Athena dokumentiert. Karim (Sami Slimane), einer der drei älteren Brüder Idirs, begegnet dieser Gewalt mit noch mehr Gewalt. Der andere Bruder ist Abdel (Dali Benssalah), Militäroffizier, der versucht, die Gewalteskalation zu verhindern, indem er seinen Bruder zur Vernunft aufruft. Mokhtar (Ouasini Embarek) ist der älteste der Brüder, der egoistische Drogendealer des Viertels, der seine ganz eigenen Ambitionen verfolgt. Aus dieser dreiteiligen internen Fokalisierung, die nie das große Ganze, die Gewaltausschreitung in den Straßen aus dem Blick verliert, macht der Zuschauer einen Abstieg in die Hölle mit. Die Gewaltspirale, ist sie einmal freigesetzt, ist nicht mehr aufzuhalten.
Neben den aufwändigen Plansequenzen und der Handkamera, die sehr an Lys Stil erinnern, treten in Athena auch ganz dramatisch überhöhte Passagen aus Zeitlupe und chorlastiger Musik dem antirealistischen Gestus entgegen. Sie heben das Ganze nahezu ins Sakrale und bieten die Lektüre eines „heiligen Glaubenskrieges“ an. Tatsächlich lassen sich Parallelen zur Erstürmung Jerusalems durch die Christen und die ikonographische Physiognomie Karims als eine Art Nachfahre des überlieferten Bildes Saladins ziehen, die freilich nicht überzustrapazieren sind. Athena mehr noch als Les misérables scheint sich nicht recht entscheiden zu können zwischen der Problematisierung seiner Motive – es wird sehr viel über Loyalität und Zugehörigkeit, sowie der Sinnlosigkeit von Rache und Gewalt geredet – und der Form der audiovisuell anziehenden, weil ungebrochenen Action-Szenerie. Beinahe scheint es, als sei das Filmteam rund um Romain Gavras vernarrt in die von ihm heraufbeschworene Ästhetik aus Feuer und Rauch der Molotowcocktails. Nicht so sehr ist es die Polizeigewalt, die angeprangert wird, zumal sie am Ende doch keine ist, vielmehr ist es der bedrohliche Ort selber, der zur Gewalt führt und den Menschen Angebote zur Verständigung verwehrt.
Ganz gleich wie veristisch die Filme von Ly und Gavras sind, ganz gleich wie sehr sie auf der unmittelbaren Realität der Drogen- und Bandenkriminalität, auf der Wut der sozial Abgehängten bestehen wollen – sie bedienen auch die Lektüre der Vorstadt als einer rechtsfreien Zone, die als soziale Gefahr und Ort der brodelnden Gewalt wahrgenommen und medial auch gerne so vermittelt wird. Lys und Gavras’ Filme sind dem Ansatz des unmittelbaren Erlebens verpflichtet, sie verführen nahezu zu ihrem Sujet und bieten keinen Zugang zur Klärung dieser unstillbaren Wut und Perspektivlosigkeit der französischen Jugend. Bandenkriminalität, Ghettoisierung, aber auch die Verzweiflung, die Angst und die Unsicherheit der Unruhestifter stehen da wie eine unumstößliche Tatsache.