Die FNCTTFEL droht mit einem Streik „um alles“. Das würde den Eisenbahnern mehr schaden als nützen

Pre-emptive strike

d'Lëtzebuerger Land du 24.04.2003

„Wir können kaum von unserer Position abgehen“, sagt CFL-Generaldirektor Alex Kremer. „Für uns gibt es nicht viel Verhandlungsspielraum“, sagt Roland Schreiner, Vizepräsident des Landesverbands FNCTTFEL. Am morgigen Samstag findet ein weiteres Treffen zwischen der Bahndirektion und den Gewerkschaftlern statt; keineswegs ist ausgeschlossen, dass es ebenso ergebnislos endet wie das vorherige am Montag vor Ostern. FNCTTFEL-Präsident Nico Wennmacher hielt es Anfang dieser Woche für „wahrscheinlich“, dass der Landesverband Mitte nächsten Monats zu einem unbefristeten Eisenbahnerstreik aufrufen werde, wenn jenes Ultimatum abläuft, das ein Kongress der Gewerkschaft am 10. März der CFL-Spitze stellte.

Vordergründig geht es um eine zwei Jahre alte Vereinbarung: Als Mitte 2001 der damalige Bahnchef René Streff wegen unlauterer Machenschaften aus seinem Amt flog, wurde bei Fürsprache der Gewerkschaftsseite der als „dialogbereit“ bekannte Alex Kremer zu dessen Nachfolger. Den Führungswechsel nutzte die FNCTTFEL prompt. Bei Androhung eines Streiks setzte sie eine groß angelegte Rekrutierung neuer Lokführer durch, da sich unter der vorhandenen Belegschaft über die Jahre mehr als 10 000 nicht abgegoltene Überstunden angesammelt hatten. Gleichzeitig stimmte die CFL-Direktion verbesserten Arbeitsbedingungen zu, die in zwei Schritten bis zum 1. Juli 2003 in Kraft treten sollen. Dass ein Eisenbahner nicht mehr als sieben Tage hintereinander arbeiten, nicht mehr als fünf aufeinanderfolgende Nachtschichten leisten soll und zwei aufeinanderfolgende freie Tage garantiert bekommt, nennt Nico Wennmacher die wichtigsten Punkte der Abmachung.

Eine Woche vor Weihnachten letzten Jahres aber rückte der CFL-Verwaltungsrat davon ab. Bahn-intern hatte man sich endlich mit den seit 1999 überfälligen Strategieentwürfen für den liberalisierten EU-Schienenmarkt befasst. Heraus kam, was im Grunde seit fünf Jahren schon bekannt war: Verschiedene der in kommerzieller Eigenverantwortung betriebenen Verbindungen im internationalen Passagierverkehr sind defizitär, und insbesondere ist es der Gütertransport. Hinzu kamen die auch in Luxemburg sinkende Konjunktur und das Verlangen der hier ansässigen Betriebe nach günstigeren Frachttarifen (siehe d’Land vom 15. November 2002). Und hatte CFL-Verwaltungsratspräsident Jeannot Waringo noch im Herbst 2001 geglaubt, das insbesondere dem Güterverkehr geschuldete Defizit von 312 Millionen Franken (7,73 Millionen Euro) aus dem Geschäftsjahr 2000 werde wohl bis 2002 bestehen bleiben, 2003 aber abgebaut sein (siehe d’Land vom 16. November 2001), war es 2001 auf 24,6 Millionen Euro gestiegen und dürfte, so Alex Kremer, für 2002 rund 30 Millionen betragen. Dass es sich rasch abbauen lässt, damit rechnet niemand mehr.

Und so ist es nicht verwunderlich, dass es dem Landesverband um viel mehr geht als nur die Vereinbarung zu den Arbeitsbedingungen, von denen Nico Wennmacher auch nicht sagen kann, inwiefern wieviele Bahnbedienstete mehr als sieben Tage am Stück arbeiten oder mehr als fünf Nachtschichten hintereinander fahren. Roland Schreiner, zugleich Chef der Zentraldelegation des CFL-Personals, weiß nur, dass die Zahl der von ihm begutachteten Anträge  der einzelnen CFL-Abteilungen zur Genehmigung von Sondereinsätzen „seit Jahren kontinuierlich wächst“ und im letzten Jahr 300 betrug, räumt aber ein, dass „so manche betriebsbedingt“ waren und sind – etwa, weil Bauarbeiten auf bestimmten Streckenabschnitten nur nachts durchgeführt werden können. Sonderlich starke Widerworte sind das nicht gegenüber der Behauptung von CFL-Direktor Kremer: „Unsere Mitarbeiter haben keine schlechten Arbeitsbedingungen, dass ihre Arbeit mal ungeregelt sein kann, wissen sie vom Tag ihrer Anstellung an, dafür beziehen sie aber auch ein hohes Gehalt.“

Dem Landesverband geht es in der Tat „um alles“, wie Generalsekretär Guy Greivelding am 21. März im Verbandsorgan Le Signal schrieb. Weil im Transportwesen nicht die 40-Stundenwoche gilt, will man ihr nahe kommen und erreichen, dass der Arbeitsminister die mit der Bahndirektion vor zwei Jahren getroffene Abmachung „homologiert“, damit andere Bahntransporteure, die eventuell aktiv werden könnten, sich daran halten. Sonst, meint Nico Wennmacher, drohe im liberalisierten Schienenfrachtsektor ein „Sozialdumping“ wie im Straßengüterverkehr. Es geht um die Beibehaltung von Eisenbahnerstatut und Stellenbeschreibungen, gegen Outsourcing und Filialisierungen, und von der Regierung wird verlangt, dass sie das Defizit der CFL auch weiterhin auffängt, solange diese gegenüber dem Straßengüterverkehr schon deshalb benachteiligt ist, weil ihm externe Kosten wie die durch Unfälle oder Umweltbelastung entstehenden nicht in Rechnung gestellt werden.

Politisch liegt der Landesverband damit auf einer Linie mit anderen europäischen Transportgewerkschaften. Das Problem dabei ist allerdings, dass er seine Forderungen einerseits zu früh erhebt, andererseits zu spät. Zu früh, weil das Strategiekonzept der CFL erst in den nächsten Wochen im Verwaltungsrat vorgestellt werden soll und selbst das Transportministerium von CFL-Hauptaktionär Staat noch nicht weiß, von welchen Eckwerten die Bahn für ihre weitere Entwicklung ausgeht. Zu spät, weil Luxemburg mit der Umsetzung von längst Gemeinschaftsrecht gewordenen Liberalisierungsbeschlüssen derart im Rückstand ist, dass manche Forderungen der FNCTTFEL wirklichkeitsfremd sind.

Auch unter dem liberalen Transportminister Henri Grethen blieb Luxemburg bei seiner ausgesprochen vorsichtigen Umsetzung der Bahnliberalisierung, die zunächst  hauptsächlich den Güterverkehr betrifft. Zwar wurden die CFL 1995 aus der Staatsverwaltung in eine Aktiengesellschaft öffentlichen Rechts überführt und ihre Buchführung zwischen Transportbetrieb und Netzverwaltung aufgetrennt. 1999 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das den Zugang zum Schienenmarkt regelt. Bis heute aber fehlen die dazu gehörigen Durchführungsbestimmungen über die Erteilung von Transportlizenzen an Bahnbetriebe, die dazu nötigen Sicherheitsbescheinigungen oder die Gebührenerhebung für die Gleisbenutzung. Erst am 6. März dieses Jahres stimmte der Regierungsrat zwei Verordnungsentwürfen über Lizenzen und Sicherheitszertifikate zu, die jetzt beim Staatsrat „pour avis“ liegen, die Gebührenfrage wird noch diskutiert. Die entsprechenden EU-Direktiven aber wurden nicht nur 1995 erlassen – sie wurden vor zwei Jahren abgeändert oder ersetzt. Als am 15. März dieses Jahres das so genannte „1. EU-Eisenbahnmaßnahmepaket“ mit den Transeuropäischen Güternetzen in Kraft trat, war in Luxemburg abgesehen von der 1995 prinzipiell abgeschafften Monopolstellung der CFL noch gar nichts geregelt. Dafür jedoch schreiben neue Direktiven vor, dass Netzbetreiber, die selbst Transporte durchführen, um Wettbewerbsverzerrungen auszuschließen, nicht gleichzeitig die Vergabe von Durchfahrten genehmigen und Sicherheitsnormen durchsetzen dürfen. Was die CFL noch tun oder tun sollen – und wobei es nach Auffassung des Landesverbands auch bleiben soll, damit die CFL als „integrierter Betrieb“ erhalten bleibt. Auch dies ist Bestandteil des Ultimatums vom 10. März.

Problematisch ist die harte Haltung der Gewerkschaft aber auch gegenüber der von der CFL-Direktion angestrebten stärkeren „Polyvalenz“ der Belegschaft. Abbauen wollen die CFL das Defizit im Güterbereich unter anderem durch eine Logistikreform. Unlängst veröffentlichte die CFL-Direktion eine mit den Zementwerken der Intermoselle in Rümelingen getroffene Vereinbarung. Der Betrieb war einer derjenigen, die um Tarifnachlässe baten, andernfalls auf Lkw-Transporte umsteigen wollten. Die Abmachung sieht vor, dass die Bahn der Intermoselle täglich eine Rangierdiesellok zur Verfügung stellt, deren Fahrer per Fernbedienung die Zementwaggons selbst füllt und am Ende des Tages abfährt. Alex Kremer zufolge könne die Bahn so die Hälfte der Kosten sparen, die bislang entstehen, wenn man abwartet, bis ganze Züge zusammengestellt sind, und könne dem Kunden preislich entgegenkommen. Ganz ähnlich will die Bahn im nationalen Güterverkehr solche Punkt-zu-Punkt-Transporte ausbauen und ihre großen Lokomotiven stärker auf Fernstrecken einsetzen wie der in Kooperation mit SNCF und SNCB betriebenen Verbindung zwischen dem Antwerpener Hafen und dem Elsass. Was dazu führt, dass verschiedene Lokführer hauptsächlich Rangierloks fahren würden und darüberhinaus auch Beladearbeiten auszuführen hätten. Für den Landesverband „Sozialabbau“, für die CFL-Direktion „ein leichtes Drehen an der Schraube, damit wir überhaupt bestehen können“.

Freilich: Für den Landesverband geht es auch um seine Daseinsberechtigung als Gewerkschaft. Seine Position wurde in den letzten Jahren immer schwächer. Zuerst wechselte sein einflussreiches Straßentransportsyndikat Acal Anfang 2001 zum OGB-L, dann löste ein Jahr später im Zuge der Nickts-Affäre sich die Briefträgerwerkschaft FSFL auf. Als die neugegründete Bréifdréieschgewerkschaft sich dem Postsyndikat der CGFP anschloss und nicht dem Landesverband, zerbrach endgültig die Allianz aus Landesverband, Syprolux und FSFL, die sich jahrelang bemüht hatte, neben der CGFP ebenfalls zu Verhandlungen um Beamtengehälter zugelassen zu werden. Neben der Sorge um Gemeindebeamte und „chargés de cours“ blieb der wohl am weitesten links stehenden Gewerkschaft FNCTTFEL allein die Eisenbahnpolitik als ständiges Betätigungsfeld.

Die Streikdrohung bei der Bahn ist nicht zuletzt im Jahr der Sozialwahlen als „pre-emptive strike“ zu verstehen, politisch aber führt sie in eine Sackgasse. Mag man den CFL auch Managementfehler vorhalten können und ein zu langes Abwarten mit Strategieüberlegungen. Wie die Dinge liegen, sind die Arbeitsplätze der Eisenbahner im Güterverkehr durch ein „Weiter so wie bisher“ stärker gefährdet als durch Einschnitte in den Besitzstand. So berechtigt Verweise auf Wettbewerbsnachteile der Bahn gegenüber der Straße auch sind – sie bleiben abstrakt, wenn EU-weit schon die Gegenfinanzierung von Infrastrukturmaßnahmen der Bahnen durch eine Lkw-Maut umstritten ist und per EU-Direktive die Querfinanzierung defizitärer Aktivitäten aus dem im „service public“ getätigten nationalen Passagierverkehr verboten. Auch ein Ausgleich von Defiziten durch den Staat ist höchstens bis 2008 erlaubt. Sichern die CFL nicht aus eigener Kraft ein hohes Güteraufkommen auf der Schiene, ist dagegen die Gefahr viel konkreter, dass ein Stellenabbau in einem Maße einsetzt, wie ihn ausländische Bahnen, etwa die DB, schon kennen. Dann schickt auch hier zu Lande die Industrie ihre Produktion über die Straße. Das kostet ja nicht viel: der Staat zahlt die Straßen ebenso wie die Schienen, und die Fernfahrer fahren jede von ihnen verlangte Strecke, wenn es sein muss, ohne Pause. Wenn nicht schnell Kompromisse gefunden werden, landen die Gütereisenbahner da, wo ihre Lkw-Kollegen heute schon sind – nämlich wirklich beim Sozialdumping.

Peter Feist
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