Überfüllte Boote mit darin kauernden müden, fast verdursteten dunklen Menschen in orangenen Westen: Verstörende Aufnahmen von den Küsten von Lampedusa oder Lesbos, wo die Gestrandeten in goldene Folien eingewickelt werden, haben sich in den letzten Jahren ins kollektive Gedächtnis gegraben. Sie wirken wie ein Fanal und erinnern uns an die Verantwortung des Westens für die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer. Es ist wenig erstaunlich, dass sich auch der chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei in seinem Dokumentarfilm The Human Flow dieser Bilder bedient. Denn sie wirken.
Die 140 Minuten lange deutsch-amerikanische Koproduktion ist das Ergebnis eines großen Rundumschlags: Über ein Jahr lang hat Ai Weiwei in 23 Ländern gedreht und schließlich aus tausend Stunden Filmaufnahmen geschnitten; 25 Filmteams waren an der aufwändigen Produktion beteiligt. Gefilmt wurde unter anderem in Afghanistan, Bangladesh, Frankreich, Griechenland, Israel, Italien und Jordanien, aber auch in Kenia, Pakistan und den Palästinensischen Autonomiegebieten sowie in Syrien, Thailand, der Türkei sowie an der Grenze zwischen Mexiko und den USA. Die Aufnahmen sind kunstvoll und bedrückend; sie werden garniert mit bedeutungsschweren poetischen Zitaten. Ai Weiwei filmt Missstände, ist den Ursachen der Flucht auf der Spur und macht sie zum Teil aus: Kriege, Hunger, der Klimawandel.
Seine „Dokumentation“ ist (s)ein Kommentar zur „Flüchtlingskrise“. Als Konzeptkünstler, der seit seinen Anfängen Bezug auf Marcel Duchamp nimmt, inszeniert er sich inmitten des Elends mit mitfühlenden, teils effektheischenden Gesten. Das wirkt zum Teil empathisch, teilweise aber auch aufdringlich, wenngleich man dem von April bis Juni 2011 in seinem Heimatland wegen regimekritischer Aktionen und Äußerungen Inhaftierten eine legitime Positionierung kaum absprechen will. Seinen Film will er als „eine sehr persönliche Reise“ verstanden wissen und als „Versuch, zu verstehen, was es heute heißt, ein Mensch zu sein“, betonte der Künstler. Die Flüchtlingspolitik der EU mit ihren Grenzzäunen, Auffanglagern, Militärpatrouillen, der Zusammenarbeit mit fragwürdigsten Diktaturen oder libyschen Warlords zur Menschenabwehr ist inhuman. Der Umgang der Polizisten mit Flüchtlingen – vor allem entlang der Balkanroute, etwa in Ungarn – ist menschenverachtend und gewaltsam, so seine unmissverständliche Anklage, an der es nichts zu rütteln gibt. Ai Weiwei hat geflüchtete Menschen am Rande ihrer physischen und psychischen Grenzen gefilmt. Manche drehen sich irgendwann weg, wollen nicht mehr gefilmt werden. Das geht unter die Haut. Problematisch wird es, wenn Ai Weiwei sich in dem Film immer wieder selbst inszeniert; es wirkt eitel und deplatziert. Etwa, wenn er mit einem irakischen Flüchtling den Pass tauscht. Oder wenn er sich inmitten provisorischer Zeltunterkünfte setzt und seinen Schädel rasiert.
Den Heimatverlust hat Ai Weiwei selbst erfahren. Seit 2015 lebt er in Berlin. Dass in seinem Dokumentarfilm die Merkelsche Flüchtlingspolitik regelrecht glorifiziert wird, erstaunt da wenig. In den provisorischen Flüchtlingsunterkünften am ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof leben Geflüchtete in Frieden und springen in ihrer Freizeit fröhlich auf dem Trampolin, wenngleich ein Mädchen vor die Kamera tritt und sagt, sie finde das Leben dort etwas langweilig. Für Ai Weiwei ist es offenbar das Gegenteil von Gaza. Auch dort hat er gedreht und palästinensische Frauen gefilmt, die ihm davon erzählen, wie eingesperrt sie sich in Gaza fühlen ... dann wird ein Tiger umherirrend in einer Grube gezeigt, darüber erscheint der Hinweis, dass Wildtiere genauso fühlen würden wie Menschen; es geht das Licht aus und die Bewohner von Gaza sitzen im Dunkeln. Und weiter geht’s nach Bangladesh. Auch dort werden vermeintliche Minderheiten unterdrückt und verfolgt!
The Human Flow ist ein bemerkenswerter Film, der jedoch durch die penetrante Selbstinszenierung Ai Weiweis nervt. Zudem hat Ai Weiwei die Menschen – außer sich selbst – nicht als Individuen gefilmt, Flüchtlinge aller Kontinente und verschiedener Kulturen verschmelzen in seiner Dokumentation vielmehr zu einer homogenen Masse. Die Bösen (in den USA Trump, im Gazastreifen die Israelis, in der Türkei Erdogan) sind schnell ausgemacht. Die mächtigen Bilder können die Gedankenarmut dieses Films nicht wettmachen.