Prognosen

Unterschätzt

d'Lëtzebuerger Land vom 12.10.2012

Wir Luxemburger sind Weltmeister im Unterschätzen. Wir unterschätzen permanent Probleme, Phänomene, Entwicklungen, die bei uns und um uns herum auftreten.
Beispiel Bevölkerunsentwicklung: Sie wird seit Jahrzehnten unterschätzt. Noch Ende der Achtzigerjahre hat das Büro Prognos prognostiziert, dass unsere Bevölkerung wahrscheinlich nie die 400 000-Einwohner-Marke überschreiten werde. Die Experten – wahrscheinlich hat der Auftrag damals  nicht mehr hergegeben – hatten die Rechnung ohne den Wirt, sprich die Einwanderung, gemacht. Ende 1993 zählte unser Land bereits 400 000 Einwohner und im zweiten Halbjahr 2009 war die (erste) halbe Million voll.
Gut erinnern kann ich mich noch daran, wie Mitte Juli 2007 das Statistische Amt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Bevölkerungszahl substanziell erhöhte – von einem Tag zum anderen, ohne Pressekonferenz, weiterführende Kommentare oder erklärende Fußnoten. Von 464 400 Einwohnern (alter Stand zum 1. Januar 2007) „sprang“ man auf 476 200 Einwohner (neuer Stand 1. Januar 2007) – ein Plus von 11 800 Personen oder 2,5 Prozent. Das ist ungefähr so, als würde man, mir nichts, dir nichts, den Franzosen 1,5 Million Einwohner hinzu rechnen. Natürlich mussten danach auch die vorherigen Jahreszahlen angepasst werden.
Stichwort Grenzgänger. 1990 zählte unser Arbeitsmarkt deren 33 700. Das waren immerhin 20 000 mehr als noch zehn Jahre zuvor. Die Zeitungen schrieben damals, dass sei aber jetzt wohl genug, mehr ginge nicht, mehr würden das Land, die Infrastruktur, die Gesellschaft ganz einfach nicht verkraften. Acht Jahre später hatte sich die Grenzgängerzahl verdoppelt, bis 2002  verdreifacht und bis 2007 vervierfacht. Dieses Jahr kratzen wir an der 160 000-Marke.
Nehmen wir das viel zitierte und arg strapazierte Integrative Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept, kurz IVL. Es wurde im Januar 2004 einer erstaunten Öffentlichkeit vorgestellt, nach dem Motto „Wir haben alles im Griff“. Damals zählten wir 440 000 Einwohner und 100 000 Grenzgänger. Zwei Szenarien wurden vorgeschlagen, wobei sich die Regierung aber nie wissentlich für eines entschieden hat. Warum auch, wenn man beide kriegen kann?
Dem Einwohnerszenario nach sollte Luxemburg im Jahr 2020 561 000 Einwohner und 126 000 Grenzgänger zählen, dem Pendlerszenario zufolge nur 511 000 Einwohner, dafür aber 168 000 Grenzgänger. Seit 2002 ist die Einwohnerzahl um sage und schreibe 85 000 Einheiten, die Grenzgängerzahl um 58 000 Einheiten gewachsen. Laut Einwohnerszenario fehlen uns bis 2020 also noch 36 000 Einwohner, macht einen Zuwachs von 4 500 pro Jahr. Das schaffen wir – letztes Jahr haben wir fast drei Mal soviel verkraftet. Die dazugehörende Pendlerzahl wurde bereits deutlich überschritten. Bevorzugen wir das Pendlerszenario, ist dagegen die Einwohnerzahl bereits zu hoch. Die passende Grenzgängerzahl werden wir allerdings locker erreichen – es fehlen (nur) noch 10 000 Personen und wir haben noch ganze acht Jahre Zeit.
Es gibt noch viele andere Bereiche, in denen Unterschätzungen auf der Tagesordnung stehen, siehe die Immobilienpreise, unsere Mobilitätsprobleme oder die Finanz- und Wirtschaftskrise. Früher haben wir regelmäßig mehr Einnahmen erzielt als vorgesehen. Jetzt scheinen wir den wahren Umfang der Probleme und – mehr noch – ihre Auswirkungen zu unterschätzen. Frage: Wenn man so viele Dinge so stark unterschätzt wie wir, besteht die Ursache dann nicht vielleicht doch darin, dass wir uns permanent überschätzen?

Claude Gengler
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