Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn

Fake Analyse

d'Lëtzebuerger Land vom 12.06.2020

Seit drei oder vier Jahren, vielleicht schon seit die CSV die Macht im CSV-Staat verloren hat, gebraucht die heimische Presse inflationär zwei bis dahin kaum bekannte oder kaum benutzte Begriffe: „Analyse“ und Fake News. Sie erscheinen als unversöhnliche Gegensätze. „Analyse“ verspricht als leuchtende Verkörperung des Guten Einsicht und Aufklärung, Fake News drohen als finstere Inkarnation des Bösen mit Blendung und Irreführung. Fake News werden von US-Firmen wie Facebook, Twitter und Youtube verbreitet, „Analysen“ von heimischen Medien wie Luxemburger Wort, Forum und Reporter.

Fake News sind kostenlos, weil sie der Beschaffung von Werbung dienen. Je haarsträubender sie sind, je mehr leidenschaftliche Zustimmung und Entrüstung mit ihnen geshared werden, umso mehr Anzeigenraum lässt sich über, unter und neben ihnen verkaufen. Falschmeldungen mit hohem Unterhaltungswert sollen Menschen mit niedrigen Einkommen und lückenhafter Bildung Ersatzerklärungen für die Ungerechtigkeit ihrer Existenz liefern. Dadurch sollen die Adressaten am Ende die Unabänderlichkeit der

gesellschaftlichen Verhältnisse wenn nicht einsehen, so doch ertragen. Die Autoren – der Präsident der USA und pickelgesichtige Teenager, anonyme Offizien, angehende und erfüllte Nazis – arbeiten alle honorarfrei für Facebook, Twitter und Youtube.

„Analysen“ werden gegen Entlohnung von Journalisten im Angestelltenverhältnis verfasst und müssen von den Lesern über Abonnement oder am Kiosk bezahlt werden. Sie sollen den Angehörigen der Mittel- und Oberschichten die Verbesserungswürdigkeit im Detail und damit Unabänderlichkeit im großen Ganzen der gesellschaftlichen Verhältnisse darlegen. Da sie bewusste Untersuchungskriterien für die Auseinanderlegung dieser Verhältnisse vermissen lassen, handelt es sich bloß um wichtigtuerisch „Eine Analyse“ überschriebene Kommentare. Immerhin enthält die Bezeichnung den intellektuellsten aller Buchstaben, ein Ypsilon. Meist sind es Aufzählungen bekannter Ereignisse der zurückliegenden Monate. Da sie bevorzugt in Organen mit katholisch-konservativen Wurzeln geübt werden, ist ihr Grundton humorlos und moralisierend.

Fake News verbreiten hysterisch, dass Bill Gates die Corona-Seuche erfunden hat, dass vaterlandslose Gesellen mit dem Ausländerwahlrecht die Nation zu zerstören beabsichtigen und Asylsuchende kostspielige BMW fahren. „Analysen“ berufen sich mit großer Ernsthaftigkeit auf die Lohn-Preis-Spirale des Index, die Laffer-Kurve der Steuereinnahmen, die Rentenmauer und den strukturellen Saldo der Staatsfinanzen. Weil Fake News für Unruhe sorgen können, „Analysen“ für Ruhe sorgen sollen, will die Regierung die einen bekämpfen und die anderen fördern. Deshalb schickt sie zur Warnung ihr Zentrum für politische Bildung in die Schulen, verlangt Parlamentsdebatten über die Rechtschaffenheit und Wahrheitsliebe der Presse und will die staatliche Pressehilfe an Qualitätskriterien knüpfen.

Romain Hilgert
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