Mittelalterliche Folklore

Lichtausfall in Vianden

d'Lëtzebuerger Land vom 15.11.2013

Heute loben wir die mittelalterliche Folklore. „Ho, ho, ho, der Jud’ der lag im Stroh, das Stroh fing an zu brennen, der Jud’ fing an zu rennen.“ Wem könnte man einen solchen Text zuordnen? Spontan fallen einem wohl rechtsradikale Gesellen ein, Neonazis oder NPD-Militanten, die aus der virulenten Judenfeindlichkeit ihr politisches Kapital schlagen. Einzelnen Quellen zufolge geht der Ursprung dieses Textes auf Hitlers Reichsgau Westmark zurück, andere Geschichtsforscher hingegen behaupten, den Text gebe es schon weit länger als das Dritte Reich, er wäre wohl unter dem Naziregime zu neuer Blüte auferstanden. Irgendwie scheint der makabre Reim tatsächlich aus deutschen Landen nach Luxemburg herübergeschwappt zu sein, denn gesungen – um nicht zu sagen: öffentlich gegröhlt – wird er anno Domini 2013 im pittoresken Mittelalterstädtchen Vianden.

Wieso denn das? In der Nacht vom 9. zum 10. November wurde in Vianden wie alljährlich der Miertchen gefeiert, eine Variante des „Martinsfeuers“, also eine uralte Traditiunn, wie die Viandener betonen. Dieses unter „Brauchtum und Kultur“ aufgelistete Ereignis besteht im Kern aus einer Art Burgbrennen und einem nächtlichen Umzug durch die Gassen Viandens, bei dem die Teilnehmer spezielle Fackeln schwingen: In ein kugelförmiges Drahtgeflecht werden ölgetränkte Lappen und Lumpen gestopft und angezündet. Der Umzug ist höchst spektakulär, ein beeindruckender Feuerzauber in der aufziehenden Winterfinsternis.

Nur: Über dem Fackelschwingen werden diverse Reime vom Stapel gelassen, eben auch der schaurige Vierzeiler über den „Jud’ im Stroh“. Natürlich sind hier keine hirnrissigen Glatzköpfe am Werk, die gesamte Bevölkerung beteiligt sich an der Festivität, ein judenfeindlicher Hintergrund ist nicht auszumachen. Man darf den „Jud’ im Stroh“-Gröhlern also das bedenklichste Motiv überhaupt unterstellen: Sie wissen nicht, was sie von sich geben. Sie sind sich nicht bewusst, welche Assoziationen dieser Vierzeiler sofort hervorruft, sie haben keine Ahnung, dass sie mit diesem buchstäblich besinnungslosen Gesang nicht nur die jüdische Gemeinschaft diffamieren. „Das wurde hier schon ewig so gesungen“, argumentieren die Viandener. Genau hier liegt das Problem. Den Begriff „ewig“ gibt es in der Geschichte nicht, nach bestimmten tragischen Zäsuren gilt einfach nicht mehr, was vorher möglicherweise Ewigkeitswert beanspruchte. Im Klartext: Spätestens nach dem Holocaust ist es schlicht nicht mehr denkbar, den „Jud’ im Stroh“-Vierzeiler bedenkenlos für folkloristische Zwecke einzusetzen. Der Hinweis auf „überliefertes Brauchtum“ beweist dann bestenfalls, dass sich die Miertchen-Veranstalter in einem völlig geschichtslosen Raum bewegen und die Tragweite ihrer Unternehmungen nicht einmal einschätzen können.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten in ganz Deutschland die Synagogen: Während der so genannten Reichskristallnacht wurden die Juden mit einer Brutalität gejagt, wie sie seit dem Mittelalter nicht mehr zutage getreten war. Am vergangenen Wochenende wurde überall in der Bundesrepublik an diesen verheerenden Pogrom erinnert. Genau zur gleichen Zeit zogen in Vianden zum Teil sichtbar angeheiterte Bürger durch die Gassen, ließen ihre Fackeln kreisen und amüsierten sich prächtig mit dem „Jud’ im Stroh“. Keine Spur von Nachdenklichkeit, kein Innehalten und vor allem kein Erschrecken über die eigene politische Bewusstlosigkeit.

Der Viandener Bürgermeister mischt sich pflichtbewusst unter das Miertchen-Volk, er geht wohl davon aus, dass Respekt vor der lokalen Folklore sich unter Umständen elektoral auszahlen wird. Aber hört er denn nicht, was um ihn herum lauthals vorgetragen wird? Verstopft er sich vorsorglich die Ohren? Oder tut er so, als müsse er nicht eingehen auf das fatale Gedankengut, das sich im „Jud’ im Stroh“-Text Bahn bricht? Wie wäre es denn, wenn der Viandener Gemeinderat beschließen würde: Ab jetzt wird dieser Vierzeiler kurzerhand aus dem Umzug verbannt? Er könnte ja ohne weiteres durch einen anderen, harmlosen Text ersetzt werden. In Vianden warten gewiss ein paar Reimakrobaten auf ihre Chance, die Traditiunn mit ihrer volkstümlichen Schreibkunst anzureichern.

Vor einem Jahr warnte Herr Paolo Malerba auf mywort.lu vor einer grassierenden Zweckentfremdung des Viandener Miertchen: „En Miertchen ass keen Müllverbrennungsanlag, wi verschiiden Leit meenen. Op eem Miertchen gëtt ousschliesslech Holz, Pabeier an Stri verbrannt. Dofir ging ech héiflechst biärden, dass d’Leit endlich ophaalen, hieren Housmüll, wi beispielsweis Matratzen, Valissen, Plastiksbidoen asw dohin ze féieren, well deen gëtt net verbrannt, deen muss vuan der Gemeen entsuergt gän.“

Schön wäre, wenn in Vianden nicht nur der Hausmüll geahndet würde, sondern auch der Kopfmüll, der in Form finsterer Gesänge in die Gassen gekippt wird. Das Dumpfe, Diffuse, Abgestumpfte, das diese Folklore konserviert und tradiert, hat in einem attraktiven Touristenstädtchen nicht verloren. Tourismus heißt im Grunde Weltoffenheit, also das genaue Gegenteil von Vorurteilsverfestigung.

Guy Rewenig
© 2024 d’Lëtzebuerger Land