Herman Van Rompuy übergibt an Donald Tusk

Unvollendet

d'Lëtzebuerger Land vom 05.12.2014

Steht in der EU ein hoher Postenwechsel an, ist dies meist kein großes Thema der Medien. Als der Europäische Rat nach den Parlamentsanhörungen die neue Kommission offiziell in Amt und Würden setzte, war das vielen Zeitungen nicht einmal eine Meldung wert. Ähnliches hat am Montag dieser Woche stattgefunden. Herman Van Rompuy, der erste Präsident des Europäischen Rates, ist nach fünf Jahren und zwei Amtszeiten ab- und sein Nachfolger, der Pole Donald Tusk, angetreten. Van Rompuy hat, weil der erste, so oder so Geschichte geschrieben. Für Donald Tusk gilt das auch, denn er ist der erste Osteuropäer, der in eine Schlüsselposition der EU gewählt wurde. Tusk steht vom ersten Tag an mit der Haushaltskonsolidierung, dem Energie-Binnenmarkt und dem Ukrainek-Konflikt im Feuer.

Van Rompuy ist 2009 gewählt worden, weil sich kein EU-Staats- und Regierungschef von Tony Blair, der ebenfalls im Gespräch war, die Butter vom Brot nehmen lassen wollte. Seine Aufgabe, den Rat so geräuschlos wie möglich zu organisieren, hat Haiku-Herman, so sein Spitzname, denn auch glänzend erfüllt. Die Eurokrise hat er gemeinsam mit Rat und Kommission gemeistert, ein großer Freund des Parlaments ist er nicht geworden.

Eine Bilanz seiner Amtszeit hat Van Rompuy am 25. November an der Pariser Universität Science Po gezogen. Unter anderem sagte er dort, dass Europa den Preis dafür bezahlt, dass sich seine Gesellschaften in der Globalisierung nicht entscheiden könnten. Gemeint hat er damit vor allem, dass die Kraft oft nicht dafür reicht, die notwendigen

Strukturreformen durchzuführen und manche europäischen Staaten deshalb in einen Teufelskreis geraten. Van Rompuy bezog das auch auf die EU. Wörtlich sagte er: „Je pèse mes mots! À terme, on ne pourra réussir qu’à travers ‚plus d’Europe‘; certainement „une union plus étroite dans la zone euro, avec une coordination économique plus intense, et une Union économique et monétaire plus dévéloppée.“ Das Haiku, das er zum Abschied der EU gewidmet hat, mag vollendet sein. Die Europäische Union ist es nicht. Van Rompuy schrieb zum Abschied: Ein Kranz von Sternen / Wogend auf blauer See / Gemeinsam für alle Zeit.

Vor allem an der Union mit großem U ist er gescheitert. Seine Vorlage für den Dezembergipfel 2012, der die europäische Bankenaufsicht und die gemeinsame Haushaltspolitik auf den Weg brachte, wurde in wichtigen Punkten nicht angenommen. Weder darf das Parlament bei den nationalen Haushalten, die die Kommissionsvorgaben nicht erfüllen, ein Wörtchen mitreden, noch ist es zu eigenen Krisenfinanzmitteln der Kommission gekommen, die ein Land nur dann hätte in Anspruch nehmen können, wenn es sich in der Wirtschaftspolitik konform zu der Vorgaben der Kommission verhalten hätte. Dass das keine geringe Niederlage war, sieht man daran, dass Kommissionspräsident Juncker Frankreich und Italien sowie fünf anderen Ländern vor einer Woche Absolution erteilt hat, obwohl die Vorgaben nicht erfüllt wurden. Der Stabilitätspakt ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben steht, zeterten die einen, Juncker rettet Europa vor den Rechtspopulisten jubelten die anderen. Wie Juncker die Länder im Frühjahr, so lang läuft die Frist, die er den „Sündern“ gewährt hat, wieder einfangen will, bleibt sein Geheimnis. Ohne Änderungen der EU-Verträge, das hat der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble immer schon so gesehen, wird es niemals eine gemeinsame Wirtschaftspolitik geben. Er schlug diese Woche ein Vetorecht der Kommission für unqualifizierte nationale Haushalte vor.

Auch Viviane Reding, neben Juncker die zweite ewige Europapolitikerin Luxemburgs, ist sich der Defizite bewusst. Am 1. Dezember hielt sie an der Universität Zürich eine Rede zum Thema: „Europa wohin? Zur Zukunft der Europäischen Union“. Es war ein historischer Ort, denn Winston Churchill hatte hier 1946 zur Gründung der Vereinigten Staaten von Europa aufgerufen, allerdings ohne Teilnahme Großbritanniens. Reding setzte sich in Zürich zum wiederholten Male für diese Vereinigten Staaten ein. Ihre nächsten Etappenziele sind die Direktwahl des Kommissionspräsidenten und die Berufung eines europäischen Finanzministers mit allen dazu gehörenden Kompetenzen. Ihre Analyse, dass Europa die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sonst nicht bestehen könne, ist richtig. Ihren Optimismus, dass die Entwicklung unumkehrbar sei, teilt nicht jeder. Dass sich die europäischen Staats- und Regierungschefs und ihre jeweiligen Bürger in absehbarer Zukunft für die Notwendigkeit der Vereinigten Staaten von Europa begeistern werden, ist nicht absehbar. Europa bleibt unvollendet.

Christoph Nick
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