Die neue LSAP „Ich vergeude nicht meine besten Jahre und am Ende sagen die Menschen: Was, der war Minister? Ich habe Visionen für das Land. Wenn das nicht anerkannt wird, dann ist das so. Dann höre ich auf und mache etwas anderes“, hatte LSAP-Spitzenkandidat Etienne Schneider drei Tage vor den Wahlen, am 11. Oktober, im Luxemburger Wort angekündigt und versichert: „Sie können aber sicher sein, dass ich genau weiß, wann ich aufhören werde.“
Wirtschaftsminister Etienne Schneider war der Mann, der es 2013 fertig gebracht hatte, die LSAP wider Erwarten noch einmal in eine Regierung zu bringen, indem er sie nach zwei Legislaturperioden an der Seite der CSV als Oppositionspartei getarnt und entscheidend zur Bildung einer Koalition mit DP und Grünen beigetragen hatte. Mit seinem Tatendrang und seiner Unverfrorenheit hatte er seinen von Niederlage zu Niederlage niedergeschlageneren Parteigenossen neues Selbstvertrauen verliehen. Viele hielten ihn für liberal und selbstsüchtig, aber im März hatten sie ihren Retter noch einmal mit 94,74 Prozent der Delegiertenstimmen als Spitzenkandidat bestätigt.
Im Wahlkampf hatte Etienne Schneider nicht nur eine Mindestlohnerhöhung und Steuersenkungen, sondern sogar die 38-Stundenwoche und eine sechste Urlaubswoche versprochen, auch wenn sie in letzter Minute durch einen vom linken Innenminister Dank Kersch eingebrachten Änderungsantrag ins Wahlprogramm geschrieben worden waren. So als ließe die LSAP 2018 die sozialen Fortschritt versprechende Sozialdemokratie der Goldenen Dreißiger und des Kalten Kriegs wieder auferstehen. Vielleicht versprach die Partei das in einem Verzweiflungsakt, weil sie sowieso davon ausging, nicht mehr in die Regierung zu kommen. Doch nun hat die DP/LSAP/Grünen-Koalition die Möglichkeit, trotzdem weiterzumachen, nun scheinen Etienne Schneider und die LSAP gezwungen, ihre Versprechen gegenüber den LSAP-Wählern einzulösen.
Deshalb sucht der Wirtschaftsminister, der sich wohl schon in der Opposition gesehen hatte und nach einer neuen Beschäftigung umsehen wollte, auch nach der unverhofften Fortsetzung der Koalition den Ausgang. Denn unter CEO Xavier Bettel sieht er keine Aufstiegschancen. Also wollte er EU-Kommissar werden. Das hat nicht geklappt, aber dann ist es für nächtes Mal. Auch auf die Gefahr hin, dass ein Teil seiner Wähler und Parteigenossen sich verraten fühlt, die LSAP ohne Etienne Schneider Gefahr läuft, kopflos auszusehen wie die CSV ohne Claude Wiseler. Doch er hatte sich sowieso dafür eingesetzt, dass die Amtszeit von Ministern auf zehn Jahre begrenzt gehört, weil sie „dann ihre beste Milch“ gegeben hätten. Das wäre für ihn spätestens im Februar 2022.
Dass darüber Arbeitsminister Nicolas Schmit die Nerven verlor, ist verständlich. Er hatte schon 2011 versucht, stellvertretender Generalsekretär der OECD und danach Superminister für Wirtschaft und Arbeit zu werden. Sein Parteikollege Außenminister hielt ihm monatelang den Posten des Botschafters in Paris offen. Der Posten des EU-Kommissars schien ihm 2013 sicher, bis Jean-Claude Juncker Kommissionpräsident wurde. 2016 sollte er Henri Grethen am Europäischen Rechnungshof beerben, aber die Europäische Zentralbank wollte Grethen nicht als Sparkassenpräsident. Als die LSAP jetzt wieder in die Regierung durfte, war er fast sicher, EU-Kommissar zu werden – bis sich auch Wirtschaftsminister Etienne Schneider interessiert zeigte.
Seit Nicolas Schmit gegenüber RTL erklärte, er wolle „nicht in die nächste Regierung, sondern EU-Kommissar werden“, sind alle in der LSAP böse auf ihn, statt auf Etienne Schneider. Denn er habe das Postengerangel öffentlich gemacht und nun stehe die Partei wieder unseriös da. Doch am Ende hat er gewonnen: Nach einer Sitzung der Parteiführung nutzte Etienne Schneider am Mittwochmorgen die Fortsetzung der Koalitionsverhandlungen, um zuerst der versammelten Presse ein kameradschaftliches Gespräch mit Nicolas Schmit vorzuführen. Dann beteuerte er, dass „es nicht der Fall“ sei, dass er Kandidat gewesen sei, um EU-Kommissar zu werden: „Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich Vizepremier dieser Regierung bin und stark gewillt bin, Vizepremier auch in der nächsten Regierung zu bleiben.“
Regierungsmanager Als die sowieso kommunistisch unterwanderte Schwerindustrie dahinzuschmelzen begann, überlebte die LSAP besser als die ausländischen Schwesterparteien, weil sie sich als Garantin eines vergleichsweise großzügigen Sozialstaats darstellen konnte, der mit den Einnahmen eines Steuerparadieses auf Kosten fremder Bemessungsgrundlagen finanziert wurde. Doch seit der Finanzkrise von 2008, seit Beps und Steuerharmonisierung, ist diese Synthese von globalem Neoliberalismus nach außen und sozialer Absicherung nach innen in Frage gestellt. Bis Etienne Schneider auftauchte und der LSAP und ihren Wählern versprach, mit Rifkin, Google und Asteroidenbergbau den Sozialstaat und damit auch die Sozialdemokratie zu retten.
Bloß an die LSAP glaubt Etienne Schneider nicht mehr: Nachdem er sie Anfang des Jahres mit DP und Grünen zu einer liberalen En-marche-Bewegung fusionieren wollte, führt er die versprochene neue LSAP nun als eine Startup wie Planetary Ressources Inc. vor: Der Erfinder sucht schon den nächsten Job, wer an ein politisches Projekt geglaubt hatte, ist selber schuld.
In der LSAP zeigt man sich von Etienne Schneiders Absetzversuchen wenig überrascht. Er strebe nach Höherem, und dafür habe sich das Amt des EU-Kommissars nun einmal angeboten. In der Opposition schätzt man, dass Etienne Schneider als Regierungsmitglied keine Zukunftsperspektiven habe und bei den nächsten Wahlen vielleicht nicht einmal mehr Spitzenkandidat seiner Partei werden könne.
Der Vizepremier, der lange Premier Xavier Bettel in den Schatten stellte, läuft nun Gefahr, bloß ein weiterer Minister auf Abruf zu sein und so den Einfluss der durch ihr Wahlergebnis ohnehin geschwächten LSAP zusätzlich zu verringern. Ein Minister mit Verfallsdatum erinnert an 1994, als CSV-Premier Jacques Santer erst nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen mitteilte, dass er die Regierung verlassen und EU-Kommissionspräsident werde, an CSV-Premier Jean-Claude Juncker, der 2008 und im Wahlkampf 2009 vergebens auf den Koffern saß, um erster ständiger Ratsvorsitzender der Europäischen Union zu werden, oder an Claude Wiseler, der 2013 eine Kammersession lang den „beigeordneten Präsidenten der CSV-Fraktion“ spielen musste, weil Jean-Claude Juncker bis zu seiner Vereidigung als Kommissionspräsident Abgeordneter bleiben wollte.
So bestätigt sich der Eindruck, dass in Zeiten, da privatwirtschaftliche Beziehungen das Maß aller Dinge sind, Politik weniger Pflichterfüllung und Dienst an der Allgemeinheit ist als ein prestigevoller und mehr oder weniger einträglicher Job, ein Managerposten, den es sofort aufzugeben heißt, wenn ein besserer in Aussicht steht. Wobei manche Politiker, die jeder Putzfrau und jedem Pförtner die Unsicherheit flexibler Arbeitsverhältnisse zumuten wollen, sich bis zuletzt an die eigenen Titel, Diäten und Dienstwagen klammern, ehe sie sich, der Losung des Wirtschaftsministeriums gemäß, zum beruflichen Wechsel „trauen“.“
Die neue Regierung Deshalb ist bis auf eine oder zwei Überraschungen auch klar, wer Minister wird, während sich die Aufteilung der Ressorts erfahrungsgemäß noch bis zum letzten Augenblick ändern kann. In einer Koalition zu dritt stehen den einzelnen Parteien weniger Ministerposten zur Verfügung, selbst wenn es, wie zwischen 2013 und 2018, die größte Regierung in der Landesgeschichte ist. So ist es schwierig, alle Bestgewählten unterzubringen und gleichzeitig Nachwuchspolitikern eine Chance zu geben, insbesondere wenn die Parteien fast gleichstark sind und deshalb die gleiche Zahl Minister beanspruchen.
Bei der LSAP sollen die Erstgewählte von drei Wahlbezirken in der Regierung bleiben: der bisherige Außenminister Jean Asselborn aus dem Süden, der bisherige Wirtschaftsminister Etienne Schneider aus dem Zentrum und der bisherige Sozialminister Romain Schneider aus dem Norden. Arbeitsminister Nicolas Schmit erklärte bekanntlich, er wolle „nicht mehr in die nächste Regierung“. Zu klären bleibt das Schicksal des Zweitgewählten im Südbezirk, Mars Di Bartolomeo, falls die LSAP der DP als Gegenleistung für den EU-Kommissar sofort oder nach einem Splitting den Parlamentspräsidenten überlässt. Der bisherige Innenminister Dan Kersch kann als Drittgewählter im Südbezirk Anspruch erheben, in der Regierung zu bleiben. Dagegen verpassten die bisherige Gesundheitsministerin Lydia Mutsch im Süden und Staatsekretärin Francine Closener im Zentrum den Einzug ins Parlament.
Der Zentrumsabgeordnete Marc Angel beanspruchte am Montag über RTL noch immer einen Regierungsposten: „Ich bin Zweitgewählter im Zentrum und habe 14 Jahre Erfahrung im Parlament und bin natürlich bereit, in der Regierung mitzuarbeiten, um das Land weiter nach vorne zu bringen.“ Aber zwecks Verjüngung und Verweiblichung der Partei ist die Konkurrenz durch die gewerkschaftsnahe Taina Bofferding aus dem Süden und die mittelständische Hoffnungsträgerin im Ostbezirk, Tess Burton, die sich schon 2016 in der Regierung gewähnt hatte, hart.
Während laut Parteistatuten ein außerordentlicher LSAP-Kongress über das Regierungsprogramm öffentlich abstimmt, werden die Minister der LSAP hinter verschlossenen Türen von der Parteileitung dem Generalrat vorgeschlagen, dem auch die Abgeordneten, die Bürgermeister und Vertreter der Unterorganisationen angehören. Bei mehreren Kandidaten kann es zu Kampfabstimmungen in getrennten Wahlgängen kommen.
In der DP entscheidet das aus der Parteispitze, den Abgeordneten, Vertretern der Unterorganisationen und 16 Bezirksvertretern zusammengesetzte Direktorium hinter verschlossenen Türen über das Koalitionsabkommen und die Minister. Bei den Liberalen sollen die Erst- und Zweitgewählten im Süd- und Zentrumsbezirk, der bisherige Finanzminister Pierre Gramegna und der bisherige Erziehungsminister Claude Meisch im Süden sowie der bisherige Premierminister Xavier Bettel und die bisherige Familienministerin Corinne Cahen im Zentrum in der Regierung bleiben. Der Erstgewählte im Nordbezirk, der bisherige Landwirtschaftsminister Fernand Etgen, kann sicher einen Anspruch darauf erheben, Regierungsmitglied zu bleiben. Um den bei den Wahlen gescheiterten Wohnungsbauminister Marc Hansen oder den sehr erfolgreichen Erstgewählten im Ostbezirk, den Grundschullehrer und Mondorfer Bürgermeister Lex Delles, in die Regierung aufnehmen zu können, bräuchte die DP einen sechsten Ministerposten oder den Parlamentsvorsitz für Fernand Etgen. Der bisherige Staatssekretär im Kulturministerium, Guy Arendt, wurde nur Fünfter im Zentrumsbezirk.
Bei den Grünen entscheidet die öffentliche Landesversammlung, zu der alle Mitglieder eingeladen sind, über das Koalitionsprogramm und die Regierungsposten. Die Erstgewählten der vier Bezirke sollen in die Regierung, der bisherige Justizminister Félix Braz aus dem Süden, der bisherige Nachhaltigkeitsminister François Bausch aus dem Zentrum, die bisherige Umweltministerin Carole Dieschbourg aus dem Osten und der bisherige kurzzeitige Staatssekretär im Nachhaltigkeitsministerium Claude Turmes aus dem Norden. Neues Regierungsmitglied könnte die Zweitgewählte im Zentrumsbezirk werden, die erst im April ins Parlament nachgerückte Anwältin und ehemalige Stadtschöffin Sam Tanson. Der Zweitgewählte im Südbezirk, Roberto Traversini, hatte am 19. Oktober gegenüber dem Luxemburger Wort erklärt, dass er kein Regierungsamt anstrebe, sondern Bürgermeister von Differdingen bleiben wolle. Die Drittgewählte im Südbezirk, die Grundschullehrerin und Bettemburger Schöffin Josée Lorsché, könnte Sprecherin der Grünen-Fraktionen im Parlament werden, da Viviane Loschetter am 14. Oktober nicht mehr kandidierte.