Die fünf Strategien im Umgang mit der Wachstumsdebatte schnitten bei den Wahlen sehr unterschiedlich ab

Triumph und Niederlage

d'Lëtzebuerger Land du 02.11.2018

Sollen die Armen am besten ihre Kinder essen, wie in der irischen Wachstumsdebatte ­Jonathan Swift 1729 sarkastisch empfohlen hatte? Ermutigt Sozial­politik die Besitzlosen bloß zur ungehemmten Vermehrung, wie in der englischen Wachstumsdebatte Thomas Malthus 1798 geargwöhnt hatte? Oder rennt der 700 000-Einwohnerstaat gegen die Rentenmauer, mit der die Luxemburger Wachstumsdebatte 1997 von Jean-Claude Juncker erfunden worden war?

Eines war in den vergangenen Monaten anscheinend sicher: „Im Wahlkampf dürfte die Wachstumsdebatte dann auch ein großes Thema werden, und müssen sich die Parteien klar positionieren.“ Das hatte jedenfalls das Lëtzebuerger Journal am 11. Januar angekündigt. Von „der aktuellen Wachstumsdebatte, die wohl bis zur heißen Phase des Wahlkampfs anhalten dürfte,“ hatte die Lëtzebuerger Revue am 21. März berichtet. Das Luxemburger Wort hatte fünf Tage später gewusst, dass „Claude Wiseler die Wachstumsdebatte zum herausragenden Thema des CSV-Wahlkampfes erklärt hatte“. Das Lëtzebuerger Journal hatte am 24. April festgestellt: „Seit mehreren Wochen prägt die Wachstumsdebatte die Luxemburger Öffentlichkeit.“ Dem hatte das Luxemburger Wort am 19. Juni nur beipflichten können: „Seit Monaten gewinnt die Wachstumsdebatte in Luxemburg an Fahrt.“

Dass der Wachstumsdebatte eine herausragende Rolle im Wahlkampf vorausgesagt worden war, hatte eine einfache Erklärung: Alle Wählerbefragungen hatten prophezeit, dass die CSV die Wahlen gewinnen würde, und ihr Spitzenkandidat Claude Wiseler hatte bei seiner Nominierung im Oktober 2016 die Wachstumsdebatte als konservative Wunderwaffe gezückt. In den Fußstapfen von Swift, Malthus und Juncker hatte er mit dem „1,2-Millionenstaat“ Übervölkerungs- und Überfremdungsängste zu schüren versucht: In den nächsten 40 Jahren müssten „sechs Städte wie Luxemburg gebaut“ oder „jede Gemeinde verdoppelt“ oder „alle in den vergangenen 500 Jahren errichteten Gebäude noch einmal gebaut werden“. Dann gebe es nur „noch 30 Prozent Luxemburger“ in Luxemburg und täglich kämen „400 000 Grenzpendler“ zur Arbeit.

Auch wenn in jedem Wahlkampf, der auf einem Konjunkturgipfel ausgetragen wird, die Wachstumsdebatte aufflackert, war sie im Wahlkampf anders verlaufen als vielfach erwartet. Vielleicht war das sogar absehbar gewesen. Denn auf vielen Wahlplakaten war zwar mit Vaterland und Muttersprache die soziale Frage in eine nationale verbogen worden, aber in den Wahlprogrammen hatten alle Parteien Vorschläge gemacht, um mit Steuersenkungen, Kaufkraft- und Investitionserhöhungen das Wirtschaftswachstum noch zu erhöhen. Nach Luxleaks wollte man bis weit in die Linke hinein nicht allzu genau hinsehen, wo das hohe Wachstum und von wem erwirtschaftet wird, wie seine Früchte verteilt werden.

Am Ende spielte die Wachstumsdebatte im Wahlkampf nicht einmal die herausragende Rolle, die manche erhofft und andere befürchtet hatten. Trotzdem lassen sich die Wahlen und die Wahlergebnisse auch als eine Abstimmung über fünf verschiedene Strategien im Umgang mit den Hoffnungen und Ängsten lesen, die unterschiedliche Wählergruppen mit dem traditionell hohen Wirtschaftswachstum verbinden.

Franziskanisch Die CSV wollte mit der Wachstumsdebatte die Wähler von der Unausweichlichkeit eines Austeritätsprogramms bei den Staatsfinanzen und der Sozialversicherung überzeugen. Sie schürte Übervölkerungsängste und drohte erneut mit der Rentenmauer ihres letzten Premierministers, um im Tonfall des heiligen Franziskus und verschiedener Umweltschutzvereine dem einfachen Volk Bescheidenheit, Verzicht und Demut zu predigen. Damit sollten hohe Haushaltsüberschüsse erspart und Rentenleistungen gekürzt werden.

Gegen Ende des Wahlkampfs drückte die CSV sich vorsichtiger aus, aber da war es schon zu spät: Ihr Stimmenanteil fiel von 34,1 auf 28,9 Prozent. Auf einem Konjunkturhöhepunkt hielten viele Wähler eine identitär oder ökologisch motivierte Austeritätspolitik für überflüssig und erteilten einer noch immer paternalistisch daherkommenden rechtsliberalen CSV eine unerwartete Abfuhr.

Chauvinistisch Aufrichtig und unverblümt wie keine andere Partei hatte die ADR die Wachstumsdebatte als das dargestellt, was sie war: eine leicht begrünte Übervölkerungs- und Überfremdungsdebatte. Ermutig vom Erfolg chauvinistischer und protektionistischer Bewegungen im Ausland, wollte die ADR zusammen mit dem Betreiber der Facebook-Seite Neen 2015 an das Referendum über das Ausländerwahlrecht von 2015 anknüpfen. Einem neuen Bündnis der einst verhassten Beamten mit Arbeitern, kleinen Angestellten, Rentnern und erfolglosen Geschäftsleuten wollte sie die Verteidigung des Sozialstaats und des Beamtenstatuts gegen die Konkurrenz qualifizierterer und billigerer Grenzpendler versprechen.

Doch der Erfolg der ADR blieb erneut hinter ihren Erwartungen und den Wahlprognosen zurück. Sie konnte ihren Stimmenanteil zwar landesweit von 6,8 auf 8,6 Prozent verbessern, aber das war noch weit entfernt von ihren 11,3 Prozent 1999 und noch weiter von den 78,0 Prozent, die sich die Referendumsgegner zugutegehalten hatten. Der Nährboden für stramm rechte Politik blieb weiterhin karger als in anderen Ländern.

Nationalliberal Als liberale Partei wollte die DP den Marktkräften freien Lauf lassen, wie es sich eine traditionell mittelständische Wählerschaft und ein Sympathisantenkreis aus Industrie und Finanzsektor von ihr erwarten. Denn sie wissen aus dem Tagesgeschäft, dass Kapitalismus ohne Wachstum nicht geht, weil niemand eine Investition riskiert, wenn er am Ende nicht ein kleines Surplus herausziehen kann. Also machte die DP zum Trost so skrupellos wie keine andere Partei der ADR mit nationalistischen Sprüchen und ­einem 20-Joresplang fir eng Sproochen- a Kulturpolitik ronderëm d’Lëtzebuergescht Konkurrenz.

Zwar verlor die DP bei den Wahlen, ihr Stimmenanteil sank von 19,1 auf 17,5 Prozent. Aber das war weniger, als sie befürchtet und die Wahlprognosen vorausgesagt hatten. Den gutbürgerlichen Fahrern deutscher Geländelimousinen war die nationalliberale Antwort auf die Wachstumsfrage oft sympathischer als die franziskanische.

Technokratisch Anders als die CSV versprachen die Grünen nunmehr, die Probleme des Klimawandels und des Straßenverkehrs ohne Bescheidenheit, Verzicht und Demut, ohne Benzin zum Literpreis von 100 Franken lösen zu können. Erstmals hatten ihre Minister zeigen können, welch gewissenhafte Technokraten sie sind, wenn es heißt, die Umwelt zu schützen und den Verkehrsfluss zu verbessern, was allen Mittelschichtenwählern am Herzen liegt, ohne diese zu inkommodieren, was diesen nicht weniger am Herzen liegt. Auf diese Weise hofften die Grünen, das Vertrauen neuer Wähler zu gewinnen und endlich ihre Stammwählerschaft über die Bio­ladenkundschaft hinaus ausweiten zu können.

Das Wahlergebnis zeigt, dass die Grünen nach 20-jähriger Stagnation bei Kammerwahlen diesmal richtig lagen. Sie konnten ihren Stimmenanteil um die Hälfte vergrößern, von 10,3 auf 15,1 Prozent. Von dem ihnen treuen Kleinbürgertum mit komfortablem Lebesniveau erhielten sie einen deutlichen Auftrag, weiterzumachen, und ihm ein sauberes, gesundes und gemütliches Großherzogtum einzurichten.

Produktivistisch Wie keine andere Partei verteidigte die LSAP ungehemmt weiteres Wirtschaftswachstum. Damit hielt sie nicht nur am Produktivismus der organisierten Arbeiterschaft als Wählerreservoir fest. Sie hielt ein hohes Wirtschaftswachstum auch für nötig, um ohne unangenehme Umverteilungskämpfe den Sozialstaat zu finanzieren, dessen Verteidigung ihr politischer Geschäftsfundus ist. Auf diesen Sozialstaat ist ihre traditionelle Wählerschaft aus Arbeitern und Angestellten angewiesen wie ihre neue verbeamtete Kernwählerschaft auf den Staat als großzügiger Arbeitgeber. Ökologische und protektionistische Einwände versuchte die LSAP zu entkräften, indem sie die Verteilung künftiger Produktivitätsgewinne und Heimarbeit für bisherige Grenzpendler versprach.

Doch die Mischung aus Arbeitszeitverkürzung und Rifkin-Fantastereien scheint vielen Wählern unglaubwürdig vorgekommen zu sein. Der Stimmenanteil der Partei, die sich zwischen Sozialpolitik und Asteroidenbergbau, zwischen Produktivismus und Ökologie hin und her gerissen fühlte, fiel von 19,2 auf 16,8 Prozent, auf die Hälfte der Stimmen, die sie vor 25 Jahren hatte.

Bleibt abzuwarten, wie sich die erneute Wachstumsdebatte auf die nun begonnenen Koalitionsverhandlungen und mehr noch auf die anschließende Regierungspraxis auswirken wird. Nicht dass nach den Erfahrung mit ihrem Zukunftspak eine der drei Parteien auf die Idee käme, das hohe Wirtschaftswachstum zu drosseln. Aber das Kräfteverhältnis zwischen den Parteien und damit vielleicht auch zwischen der technokratischen, der nationalliberalen und der produktivitischen Verwaltung seiner Nebenerscheinungen hat sich verändert.

Romain Hilgert
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