Geschichte

Die Baulücke

d'Lëtzebuerger Land vom 09.11.2018

An der Ecke der hauptstädtischen Ënneschtgaass und der rue Aldringen, im Schatten der gewaltigen Baustelle, wo die französischen Millionärsfamilien Mulliez und Descours gerade ein Einkaufszentrum errichten lassen, steht ein niedriges Büro­gebäude. Es wirkt etwas altmodisch, weil es nicht aus Stahl und Glas, sondern aus Stein ist. Der Staat hatte kurz nach dem Krieg eine Baulücke damit füllen lassen. Zuerst hatte er es den Beamten der gerade gegründeten Ceca überlassen, heute ist das Erziehungsministerium dort untergebracht.

Wie die Baulücke entstanden war, wollte seinerzeit niemand mehr so richtig wissen. Dort hatte seit 1894 ein in der Stadt einzigartiger Bau gestanden, im maurischen Stil, mit einer gewaltigen, zwiebelförmigen Kuppel, eine Synagoge. Vor dem deutschen Überfall hatten 3 500 Juden im Land gelebt, fast 2 000 von ihnen wurden von den Nazis ermordet, die anderen hatten fliehen können oder überlebten die Konzentrationslager. Im Frühjahr 1941 schlossen die Nazis die Synagoge und ließen sie abreißen.

Die Historikerin und ehemalige grüne Abgeordnete Renée Wagener zitierte aus einem Gespräch mit ihrem Vater Fernand Wagener über den Handwerksbetrieb der Familie: „Anschließend wies Fernand darauf hin, dass der Betrieb auch am Abriss der hauptstädtischen Synagoge beteiligt gewesen sei. Es kämen ja heute, ‚diese Judengeschichten wieder auf die Tapete‘. Sein Vater habe damals eine Art ‚Weihrauchgefäß‘ aus der Synagoge mitgehen lassen, das immer noch im Keller stehe“ (Woxx, 3.9.2015).

Weitere Einzelheiten über die Umstände und den Zeitpunkt der Schließung und Zerstörung der Synagoge wurden erfolgreich vergessen und verdrängt. Viele der jüdischen Zeitzeugen überlebten den Krieg nicht, für die katholisch-patriotische Geschichtsschreibung sind Juden ungläubige Fremde. So klaffte die Baulücke weiter, auch nach dem Bau des Bürogebäudes. Erst nach mehr als 40 Jahren wurde 1988 eine Erinnerungstafel an der Fassade des Bürogebäudes angebracht. Am heutigen Freitag, dem 80. Jahrestag der „Reichspogromnacht“ in Deutschland, weihen nun der Premier, der Erziehungsminister und die Bürgermeisterin zusammen mit der Stiftung zum Gedenken an die Shoah und dem Verein Memo-Shoah eine zweite Gedenktafel am gleichen Gebäude ein.

Der Artuso-Bericht sollte die Abschlussbilanz des Faschismus in Luxemburg darstellen. Der Premier hatte sich entschuldigt und die ganze Volksgemeinschaft zu Opfern erklärt. Der Großherzog hatte ein Nationales Monument für die Opfer der Shoah eingeweiht. Zur Sicherheit kommt nun eine zweite, größere Gedenktafel an das Erziehungsministe­rium, die mit Fotos und in drei Sprachen beweisen soll, dass zwar der Tod der letzten Opfer und Entschädigungsberechtigten abgewartet worden war, aber nun umso intensiver Gedenken, Trauer und Selbstmitleid produziert wird. Zumindest so lange es nichts kostet. Die Regierung hatte um die Fondation pour la mémoire de la Shoah gefeilscht, damit aus den „nachrichtenlosen Bankkonten“ die Opfer selbst für die Erinnerung an ihr Leid aufkommen sollten. Noch vor zwei Monaten hatte der Premier gemeint, dass weiterhin kein Grund bestehe, das diskriminierende Kriegsschädengesetz von 1950 zu ändern.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno warnten 1947 in der Dialektik der Aufklärung (S. 201): „Die Harmonie der Gesellschaft, zu der die liberalen Juden sich bekannten, mußten sie zuletzt als die der Volksgemeinschaft an sich selbst erfahren. Sie meinten, der Antisemitismus erst entstelle die Ordnung, die doch in Wahrheit ohne Entstellung der Menschen nicht leben kann. Die Verfolgung der Juden, wie Verfolgung überhaupt, ist von solcher Ordnung nicht zu trennen. Deren Wesen, wie sehr es sich zu Zeiten verstecke, ist die Gewalt, die heute sich offenbart.“

Romain Hilgert
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