Sozialwahlen nach dem Ende des nationalen Sozialdialogs und nach der Krise des LCGB

Lieber größer und stärker

d'Lëtzebuerger Land vom 08.11.2013

Ließe sich Demokratie messen, dann wären die Sozialwahlen nächste Woche die demokratischsten Wahlen überhaupt. Schließlich sind die Ausschuss- und Berufskammerwahlen die einzigen allgemeinen Wahlen, die niemanden wegen seiner Staatsangehörigkeit oder seines Wohnorts ausschließen: Auch ausländische Beschäftigte und Grenzpendler dürfen wählen. Da die Berufskammern Gutachten zu Gesetzentwürfen abgeben, haben ausländische Beschäftigte damit sogar einen indirekten Einfluss auf die nationale Gesetzgebung – wenn das Parlament diesen Gutachten Rechnung tragen will. Minderjährige scheinen dagegen nicht zu jung, um einer Lohnarbeit nachzugehen, doch die Wahlberechtigten bei den Berufskammerwahlen müssen mindestens 18 Jahre alt sein.

Alleine zur Wahl der größten Berufskammer, der Salariatskammer, sind rund 430 000 in- und ausländische Wahlberechtigte aufgerufen. Damit ist die Zahl der Wahlberechtigten fast doppelt so hoch wie bei den Parlamentswahlen vor einem Monat. Doch am Ende dürften weniger Leute bei den So­zialwahlen von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben als bei den Parlamentswahlen. Denn in der Regel nimmt nur ein Drittel der wahlberechtigten Lohnabhängigen an den Berufskammerwahlen teil.

Zum einen gilt nämlich bei den Kammer- und Gemeindewahlen ein Wahlzwang, dem sich nur wenige Wahlberechtigten entziehen, während die Wahlberechtigten bei den Berufskammerwahlen keinem Wahlzwang unterliegen. Zum anderen wissen viele Wähler nicht einmal, dass es Berufskammern gibt und wozu sie dienen. Diese Unwissenheit ist unter den Luxemburger Wahlberechtigten weit verbreitet. Doch sie ist noch größer bei den Grenzpendlern und eingewanderten Beschäftigten, die meist aus Ländern kommen, in denen es keine Berufskammern gibt. Einige sehen die Berufskammern auch misstrauisch als korporatistische Relikte autoritärer Regime an.

Obwohl es nicht der Zweck der Ausschuss- und Berufskammerwahlen ist, so dienen sie doch auch dazu, alle fünf Jahre das Kräfteverhältnis zwischen den Gewerkschaften zu messen. Aus diesem Grund setzen insbesondere die größeren Gewerkschaften inzwischen beträchtliche Mittel ein, um mit Wahlprogrammen, Plakaten, Postwurfsendungen, Anzeigen und Rundfunkwerbung einen Wahlkampf nach dem Vorbild der Parteien bei den Parlamentswahlen zu betreiben. Manchmal leben sie dabei über ihren Verhältnissen, wie es dem LCGB 2008 geschehen war, manchmal versuchen sie dem Glück etwas nachzuhelfen, wie der LCGB dieses Jahr, der auf eigene Faust Wahlzettel einsammelte.

Ein längerfristiger Vergleich der Ergebnisse der Sozialwahlen, insbesondere der Berufskammerwahlen, ist nicht einfach. Denn wiederholt änderte der Gesetzgeber die Spielregeln, zuletzt durch die Reform der gesetzlichen Bestimmungen über die nationale Repräsentativität, welche die Kandidatur kleinerer Gewerkschaften erschwerte, und zuletzt durch die Einführung des Einheitsstatuts. Mit dem Einheitsstatut wurden die Arbeiter- und die Privatbeamtenkammer verschmolzen, die Gewichtung der für die Zahl der Delegierten ausschlaggebenden Berufskammern wurde geändert, und den Rentnern wurde das Wahlrecht zuerkannt, so dass die Wählerschaft vergrößert und verändert wurde.

Trotzdem haben die Sozialwahlen und insbesondere die Berufskammerwahlen, deren Ergebnisse weniger von einzelnen Betrieben und Kandidaten abhängen, jedes Mal ihren eigenen Einsatz, handeln immer wieder von der Entwicklung der sozialpolitischen Verhältnisse im Land. Dabei zeigen sie vor allem eine anhaltende Konzentra­tionsbewegung, welche auch die Konzentrationsbewegung auf der Unternehmerseite widerspiegelt, wo im Jahr 2000 die Union des entreprises luxembourgeoises (UEL) als Dachverband aller Unternehmerorganisationen gegründet worden war.

So hatten die Sozialwahlen 1998 noch von der Frage gehandelt, ob es zwischen den beiden Arbeiter wie Angestellte und teilweise auch Beamte organisierenden Universalgewerkschaften der Privatwirtschaft weiterhin eine eigene Angestelltengewerkschaft geben soll. Die seit der Gründung des OGBL gespaltene Fédération des employés privés (Fep) suchte sich eine Daseinsberechtigung mit einem überholten Korporatismus, indem sie die Angestellten gegen die Arbeiter zu mobilisieren versuchte. Doch die auf eine immerhin 80-jährige Geschichte zurückblickende Fep wurde ein Opfer ihrer Misswirtschaft und Zerstrittenheit. Mehr als zehn Jahre vor der Einführung des arbeitsrechtlichen Einheitsstatuts hatte sie sich selbst überflüssig gemacht und ging bei den Sozialwahlen kläglich unter.

2003 handelten die Sozialwahlen dann von der Frage, ob es zwischen dem LSAP-nahen OGBL und dem CSV-nahen LCGB eine dritte, sich parteipolitisch unabhängig gebende Gewerkschaftszentrale geben soll. Um das beste aus den ihnen ungünstigen Bestimmungen über die nationale Repräsentativität zu machen, hatten die von der Fep abgespaltene Bankengewerkschaft Aleba und die vom Neutralen Handwerkerverband der Arbed in Neutrale Gewerkschaft Luxemburgs der ADR mutierte NGL zusammen mit den beiden Splitterorganisationen Union des employés privés und Syndicat national des employés privés am 10. Februar 2003 einen Gewerkschaftsverband mit dem etwas sperrigen Namen Aleba/UEP-NGL-Snep gegründet. Doch auch dieses Unternehmen ging bei den Sozialwahlen kläglich unter, der unparteiische Verband verschwand gleich wieder, nicht zuletzt, weil die Reform der nationalen Repräsentativität für die Aleba maßgeschneidert wurde.

Die Sozialwahlen 2008 handelten von der Frage nach der Daseinsberechtigung kleiner Gewerkschaften. Die Reform der nationalen Repräsentativität machte insbesondere den linken Branchengewerkschaften das Leben schwer: Fast unbemerkt hörte die älteste Gewerkschaft des Landes, der 1864 gegründete Bucharbeiterverband, Ende 2005 auf und ging im OGBL auf; der Landesverband FNCTTFEL musste sich zähneknirschend unter die Fittiche des OGBL begeben, so wie das christliche Gegenstück Syprolux beinahe ein Fachverband des LCGB ist; zuvor war schon die Briefträgergewerkschaft von ihrem betrügerischen Vorsitzenden ruiniert worden. Es waren aber auch die ersten Sozialwahlen nach der Einführung des arbeitsrechtlichen Einheitsstatuts, das die Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten aufhob und eine einzige, riesige Berufskammer aller Lohnabhängigen der Privatwirtschaft schuf. Hinzu kam der Schock der Finanz- und Wirtschaftskrise, der viele Berufstätige lieber Schutz bei den stärksten Gewerkschaften suchen ließ. Das Ergebnis war eindeutig: Der OGBL kam bei den Salariatskammerwahlen auf 36 Sitze, der LCGB abgeschlagen auf 16 Sitze. Die restlichen acht Sitze teilten sich die Branchengewerkschaften Aleba, FNCTTFEL und Syprolux. NGL/Snep und die vom LCGB abgespaltene Fédération indépendante des employés Dexia Luxembourg (Fiedel) gingen leer aus.

Die Berufskammerwahlen vom 13. November dieses Jahres werden vor allem von zwei Ereignissen geprägt. Im Laufe der frühzeitig beendeten Legislaturperiode kam der nationale Sozialdialog zum Erliegen. Die Gewerkschaften brachen das Stillhalteabkommen der Tripartite, so dass diese von der Regierung beendet wurde; die Unternehmerverbände zogen sich vorübergehend aus den sozialpartnerschaftlichen Gremien zurück. Dies führte zu einer Radikalisierung, bei der die Gewerkschaften sich unnachgiebiger zeigten, die Unternehmer weitreichende Forderungen nach einer Senkung der Lohnquote erhoben und sich aktiv in den Wahlkampf einmischten, um die CSV/LSAP-Koalition zu beenden. Zudem geriet der LCGB, der sich immer wieder als die zweite große Gewerkschaft neben dem OGBL darzustellen versuchte, in eine Schuldenkrise, die zum Sturz des Präsidenten und zur Entfernung zweier weiterer CSV-Abgeordneter aus der Gewerkschaftsführung genutzt wurde. Wofür der amtierende Vorsitzende, Patrick Dury, am Mittwoch dieser Woche die schönen Worte fand, seine Gewerkschaft habe den „Weg der parteipolitischen Neutralität eingeschlagen“. Dabei braucht die CSV gerade nach ihrem Wahlfiasko die Unterstützung einer gegen die Regierung mobiliserenden Gewerkschaft.

Die Sozialwahlen 2013 handeln somit auch von der im Zuge der Konzentrationsbewegung sich als nächste aufdrängenden Frage, wozu zwei parteipolitisch neutrale Universalgewerkschaften der Privatwirtschaft dienen sollen. ­OGBL-Präsident Jean-Claude Reding hatte deshalb schon im Juli im Zusammenhang mit dem Konflikt im Baugewerbe dekretiert, dass es unmöglich geworden sei, mit dem LCGB zusammenzuarbeiten. Worauf der LCGB diese Woche eine bei TNS-Ilres gekaufte Meinungsumfrage veröffentlichte, laut der 25 Prozent der Befragten für die vom OGBL angestrebte Einheitsgewerkschaft und 67 Prozent dagegen waren. Die Sozial­wahlen werden also zeigen, ob es dem von einer Krise erschütterten LCGB gelingen wird, seinen Einfluss zu verteidigen, oder ob der offensivere OGBL in Krisenzeiten seinen Vorsprung weiter ausbauen kann.

Romain Hilgert
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