Strandroman mit  Tiefgang

d'Lëtzebuerger Land vom 28.06.2024

„Strandroman“ oder „der perfekte Roman für den Sommer“ – diese Bezeichnungen haben meistens den fahlen Beigeschmack der Banalität und des Oberflächlich-Belanglosen. Doch oberflächlich, banal oder belanglos ist Corinna Billes Roman Meerauge nicht. Dabei würde er sich dafür anbieten: Ein Buch, das man im Schatten der Felsbrocken, kurz vor einem Nickerchen oder nach dem Schwimmen im azurblauen Meer der Côte d’Azur lesen kann – genau wie die Hauptfigur des Romans, Marthe.

Doch es ist nicht einfach nur ein Strandroman. Angefangen damit, dass die Liebesgeschichte der verheirateten Marthe, die an der Côte d’Azur den jungen Fischer Marceau trifft, mit dem sie einen Sommer eine leidenschaftliche Affäre verbringt, im Grunde keine Übersetzung eines Romans der Autorin Corinna Bille ist, sondern eine Übersetzung eines unveröffentlichten Manuskripts. Der Roman hat eine spannende Entstehungsgeschichte, denn er ist auf Bestreben der Übersetzerin Lis Künzli entstanden, die sich die Grundlagen für ihre Übersetzung selbst in Archiven, den persönlichen Unterlagen, gesammelten Dokumenten und privaten Tagebucheinträgen der Autorin zusammengestellt hat. Bille selbst hatte für ihr Manuskript nie einen französischsprachigen Verlag gefunden, was nicht nur an der noch nicht ganz runden Form lag – sondern ebenfalls an der Brisanz des Textes. Immerhin geht es hier um eine junge, verheiratete Frau, die sich im vollen Bewusstsein ihres amoralischen Handelns offen ihrer Affäre im kleinen südfranzösischen Dorf La Farloude hingibt, „wo die Männer den Frauen kleine singende Insekten schenken“. Das Manuskript endete in der Schublade, bis Künzli es wiederentdeckte, neu zusammenstellte, lektorierte und schließlich ins Deutsche übersetzte.

Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Im ersten sowie im letzten Teil reist die Erzählerin nach ihrer flammenden Affäre nach La Farloude zurück, obwohl ihre vergängliche Sommerliebe längst erloschen ist, und gibt sich Erinnerungen und neuen Begegnungen hin, die doch alle mit Marceau zu tun haben. Im mittleren Teil lesen wir vom Kennenlernen von Marthe und Marceau, von ihren ersten Annäherungen und davon, wie sie sich allmählich ineinander verlieben und sich einander hingeben. Marthe und Marceau verbringen Schäferstunden am Strand und verlieren sich dabei in Betrachtungen des Körpers des oder der anderen, der Schönheit der Natur und der Vergänglichkeit dieses Sommers. In ihrem Liebesrausch klingen stets die Vergänglichkeit dieser Affäre, die nur einen Sommer dauern soll, mit, die vorherigen Sommerliebschaften von Marceau oder der Umstand, dass Marthe verheiratet ist und ihr Ehemann auf sie wartet; doch das tut ihrer Leidenschaft keinen Abbruch. Es ist ein wildromantischer Roman, der zugleich fest in seinem Entstehungskontext kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verortet ist. Denn immer wieder durchbrechen Nebensätze oder Erinnerungen an die Schrecken, die Marceau, seine Brüder und die Dorfbewohner durchgestanden haben, brutal das oberflächliche, hedonistische Schwelgen – und werden umso schneller wieder verdrängt.

Meerauge ist ein toller Roman, der trotz der scheinbaren Oberflächlichkeit durch sein Setting und sein scheinbares Thema (eine Liebschaft) immer wieder die Realität über die beiden Figuren hereinbrechen lässt und allen Kitsch und alle Liebesschwüre mit dem wummernden Bass des Verdrängten unterlegt … und so zeigt, wieso sich die beiden so bereitwillig der Schönheit dieser vergänglichen Augenblicke hingeben. Die einfache, „kleine Sprache, wie Liebende sie verwenden“ (so das vorgestellte Zitat von Virginia Woolf) entfesselt einen Sog mit einer Klarheit, die die rohe körperliche Leidenschaft und das Frönen am Verliebtsein in der gleißenden Sonne der Côte d’Azur mit der rezenten Vergangenheit Europas überschattet. Ein gelungener Roman für Fans von berührender Literatur mit subtilem Tiefgang, trotz – oder vielmehr: dank der treffenden, einfachen Sprache.

Corinna Bille: Deutsch. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Rotpunktverlag 2024. 296 Seiten

Claire Schmartz
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