Herzleid Los

An der Straßenlaterne

d'Lëtzebuerger Land vom 01.11.2013

Gerüchte um Erich Kästner, er habe unterhaltsame Kinderbücher vor allem aus Vorsicht vor der gnadenlosen NS-Diktatur geschrieben, lassen sich mit simplen Fakten zerstreuen: Prosa-Werke wie Emil und die Detektive (1929), Das fliegende Klassenzimmer (1933) oder Das doppelte Lottchen (1949) sind über seine ganze Autorenbiografie verteilt. Interessanter und mit der TNL-Produktion Herzleid Los einmal mehr in Erinnerung gerufen ist jedoch der Umstand, dass die Popularität von Kästners Roman-Klassikern die seiner Lyrik mehr oder weniger in den Schatten stellt, sieht man von einer Handvoll kanonisierter Verse ab. Zu Unrecht.

Theater- und Fernsehdarsteller Ulrich Gebauer ist derzeit mit Tondesigner und Klavierspieler Ralf Schink mit der Vertonung Dutzender Gedichte auf Tour. Am 21. und 22. Oktober betraten sie die Bühne des Théâtre National de Luxembourg, umgeben von einem Zaun, einem Flügel und der vielleicht prägendsten Requisite, einer Straßenlaterne.

Das Zusammenspiel zweier Akteure wie Schink und Gebauer funktioniert vollends. An diesem Abend jedoch erleben wir zudem die sonderbare Symbiose dieser alten, die Bühne in ein dumpfes, melancholisches Licht tauchenden Laterne und der ständig gegenwirkenden Ironie von Gebauers augenzwinkernder Rhetorik und Mimik. Es kann sich um das sozialkritische Weihnachtslied, chemisch gereinigt oder die Einsamkeit eines Mannes im Spiel mit seinem Schatten handeln (Monolog mit verteilten Rollen). Gebauer verleiht jedem Werk seine komische Note, ohne die ernsthafte Seite dieser Worte zu übertünchen: „Keiner sah das nächtliche Duett,/ nur im Hofe der verdorrte Strauch/ ... Und du gähnst betrübt. Und gehst ins Bett./ Und der andre drüben auch.“ Nichts wirkt banalisiert, nichts albern, sondern in sich schlüssig. Auch die reine Lektüre der Texte im Anschluss an die vertonte Darbietung paart Schelmisches mit Bitterkeit, Komik mit Trauer.

Eine Ausnahme zum Bittersüßen von Kästners sozialpolitischen und beziehungsanalytischen Texten bilden hingegen die Verse aus Stimmen aus dem Massengrab, denen Gebauer deshalb keinen Humor mehr abgewinnen kann, weil ihnen schlichtweg kein Humor abzugewinnen ist: „Da liegen wir, den toten Mund voll Dreck.Und es kam anders, als wir sterbend dachten.Wir starben. Doch wir starben ohne Zweck.Ihr lasst Euch morgen, wie wir gestern, schlachten.“ Diese pazifistische Anklage lässt das Theaterhaus für Minuten in finsterer Stimmung zurück.

In das atmosphärisch vielseitige Programm fügt sich Ralf Schink, Absolvent der renommierten Berklee College of Music, nahtlos ein. Mit weltweiten Engagements und als Berater der Firmen Roland und Yamaha wagt er sich ständig über die Grenzen konventioneller Komposition hinaus. Die eben genannte Vielschichtigkeit der Stimmung interpretiert auch er am Flügel in Moll und Dur. Haften bleibt jedoch die elektronische, in giftgrünes Neonlicht gebadete Harfe, die Kästners nunmehr ein Dreivierteljahrhundert bestehendes Werk in futuristischem Kleid erscheinen lässt.

Mit Herzleid Los würdigen Gebauer und Schink den Autor Erich Kästner in seiner lyrischen Ausdrucksstärke, seiner Komik, seiner Melancholie. Es ist ein hervorragender Abend an diesem 22. Oktober, der dem luxemburgischen Publikum einen zentralen und in seiner literarischen Qualität oft unterschätzten Künstler des 20. Jahrhunderts näher bringt.

Herzleid Los mit Texten von Erich Kästner; eine Produktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen und dem TNL; mit Ulrich Gebauer und Ralf Schink; keine weiteren Vorstellungen.
Claude Reiles
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