Arbeiten in der „Industrie 4.0“: Ehe darüber diskutiert wird, soll ein deutscher Experte eine Studie anfertigen. Viel Zeit für konkrete Entscheidungen, ehe der Wahlkampf beginnt, bleibt nicht mehr

Digitale Sozialbeziehungen

d'Lëtzebuerger Land vom 07.04.2017

Als Vertreter von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden sich vergangene Woche zum ersten Mal mit Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) trafen, um über die soziale Dimension der Rifkin-Studie zu sprechen, hatten eine Woche zuvor die Handels- und die Salariatskammer bereits mit dem Arbeitsminister ein gemeinsames Kolloquium zur Frage: „Quelles compétences pour quels emplois à l’ère du numérique?“ organisiert. Wichtigster Gastredner dort war der deutsche Staatssekretär Thorben Albrecht aus dem Bundesarbeitsministerium. Er hat Arbeiten 4.0 begleitet, ein im November veröffentlichtes 230 Seiten langes „Weißbuch“ mit Politikempfehlungen zur Ausgestaltung der Arbeit in einer Gesellschaft, die der „digitalen Transformation“ unterliegt.

Dass Luxemburg sich Inspiration aus Deutschland holt, ist naheliegend. Einerseits, weil dort die digitale Transformation durch Initiativen wie „Industrie 4.0“ besonders vorangetrieben wird. Andererseits, weil die dort gepflegte Konsenskultur der in Luxemburg ähnelt.

Das „Leitbild“ von Arbeiten 4.0 ist nicht etwa mit „Die an die digitale Transformation angepasste Arbeitswelt“ überschrieben, sondern mit: „Gute Arbeit im digitalen Wandel“. Denn die Grundfrage, berichtete Staatssekretär Albrecht am 22. März seinen Zuhörern im Konferenzsaal der Handelskammer, habe gelautet: „Wie wollen wir morgen arbeiten?“ Digitalisierung sei schließlich kein Ziel an sich.

„Technology is not destiny – institutions and policies are critical“, ist auch in dem Bericht Artificial Intelligence, Automation, and the Economy zu lesen, den US-Präsident Barack Obama einen Monat ehe er aus dem Amt schied, noch von einem Beraterstab vorgelegt bekam. Der deutsche und der amerikanische Bericht kommen zum Teil zu denselben Schlüssen: Produktivitätsgewinne aus der Digitalisierung müssten zu höheren Löhnen führen. Die Chance auf sichere und gut bezahlte Arbeit müsse über eine bessere Aus- und Weiterbildung gewährt werden. Auch der Sozialstaat wird erwähnt. Aber während Arbeiten 4.0 die Sozialversicherung als „Kernfunktion des Sozialstaats“ erhalten will, ist in dem Obama-Bericht vorsichtiger von „steps to modernize the social safety net“ die Rede, und es geht eher darum, den in der Digitalisierung unter die Räder Gekommenen zu helfen „to get back on their feet“. Die deutsche und die US-amerikanische Sozialstaatstraditionen sind ja auch verschieden.

Um die Frage „Wie arbeiten?“ geht es in dem amerikanischen Bericht gar nicht. Auch deshalb ist er sechs Mal kürzer als der deutsche, der 80 Seiten allein den „Gestaltungsaufgaben“ rund um die „gute Arbeit“ widmet. Aber letzten Endes kommt Arbeiten 4.0 zu dem Schluss, „am besten“ ließen sich die neuen Ziele „zwischen Sozialpartnern und Betrieben aushandeln“. Die Flexibilitätswünsche der Unternehmen ließen sich hoffentlich in Einklang bringen mit der „Vielfalt“ der Wünsche der Beschäftigten nach Arbeitsplatzwechseln, flexiblen Arbeitszeiten, Übergängen zwischen Voll- und Teilzeit und so fort. Wenn Arbeiten 4.0 zum Beispiel feststellt, die reale Arbeitszeit abhängig Vollzeitschäftigter in Deutschland sei pro Woche im Schnitt fast fünf Stunden länger als vertraglich vereinbart und der Hälfte der Leute sei das zu viel, dann komme es „darauf an, durch fair ausgehandelte Kompromisse“ sowohl „den Flexibilitätserfordernissen der Arbeitgeber“ als auch den „Bedürfnissen der Arbeitnehmer“ gerecht zu werden. Allerdings könnten in der „digitalen Arbeitswelt“ ein „neues Zusammenspiel von Mensch und Maschine, neue Organisationsformen und Big Data im Produktionsprozess“ die Arbeit nicht nur „besser machen“, sondern auch „neue Belastungen mit sich bringen“. Dann müssten „neue Geschäftsmodelle und Produktionsprozesse“ mit einem „modernen Arbeitsschutz 4.0“ verbunden werden. Das könnte staatliche Regulierungen bedeuten, die Arbeiten 4.0 ansonsten eher nicht will, um den digitalen Aufschwung nicht zu gefährden.

Ganz ähnliche Auseinandersetzungen zeichnen sich auch in Luxemburg ab. Wahrscheinlich aber erst ab Herbst: Dann soll eine Studie vorliegen, die Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP), die Handels- und die Salariatskammer gemeinsam bei einem deutschen Experten in Auftrag gegeben haben. Sie soll zum ersten Mal erheben, wie die Digitalisierung, die ja kein ganz neues Phänomen ist, und die Arbeitswelt hierzulande zusammenhängen. Für den Rifkin-Bericht war das nicht thematisiert worden.

Wahrscheinlich wollten auch deshalb weder Nicolas Schmit noch die Gewerkschafts- und die Unternehmervertreter sich in der Diskussion auf dem Kolloquium vor zwei Wochen politisch allzu deutlich äußern. Der Arbeitsminister plädierte lediglich für ein „Recht auf Weiterbildung“ in der digitalen Ära, nannte „Weiterbildungskonten“ eine „interessante Idee“ und stellte fest, die Aus- und Weiterbildung in Luxemburg „entspricht nicht den neuen Herausforderungen“. Abgesehen davon beschworen alle den Sozialdialog und Handelskammerpräsident Michel Wurth meinte, „gemeinsam“ werde man die nötige „Flexibilität im Denken“ aufbringen, die anerkennt, „dass Flexibilität in den Betrieben so wichtig ist“.

Die Salariatskammer will für die diesjährige Ausgabe des „Arbeitszufriedenheits-Index“, den sie gemeinsam mit der Uni Luxemburg aufstellt, dem Zusammenhang mit der Digitalisierung nachgehen. Gefragt werden soll nach der Einstellung der Beschäftigten gegenüber der Digitalisierung, aber zum Beispiel auch, welche Auswirkungen sie auf Arbeitszeit und Arbeitsort hat, ob sie die Autonomie vergrößert, Ängste vor Jobverlust verstärkt, den Zeitdruck erhöht, zu Stress führt und wie die Weiterbildungsangebote eingeschätzt werden. Bisher war nur im Index 2015 gefragt worden, wie die „Erreichbarkeit“ per E-Mail oder SMS empfunden wird. „Rund ein Drittel der Befragten gab an, es werde von ihnen erwartet, auch außerhalb der Arbeitszeit erreichbar zu sein“, sagt Patrick Büchel, Arbeitspsychologe bei der Salariatskammer. „Bemerkenswert“ sei gewesen, „dass diese Leute besonders oft unbezahlte Überstunden leisteten und sich häufig ,gehetzt‘ fühlten. Sie arbeiteten also mehr und zugleich intensiver.“

OGBL-Präsident André Roeltgen sieht in der bevorstehenden Flexibilitätsdebatte „Risiken und Chancen“. Durch „neue Arbeitszeitregimes“ könnten „die Beschäftigten auch zeitsouveräner werden, das hängt ganz davon ab, welche Gestaltungsmöglichkeiten es gibt“. Aber „variable Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung“, von denen André Roeltgen meint, sie könnten im Interesse der Betriebe wie der Mitarbeiter sein, erreiche man nicht durch weniger Regulierung. „Wenn das Patronat das glaubt, dann irrt es sich, denn ohne Regulierung würden die Interessen der Beschäftigten sich nicht wahren lassen.“ Flexibilität berge auch die Gefahr der „Entgrenzung“, wenn, wer flexibel arbeitet, zu viel arbeitet. Und wenn in Zukunft Menschen stärker mit Robotern kooperieren sollen, dann müsse in diesen Arbeitsprozessen garantiert sein, dass der Roboter sich dem Menschen anpasst und nicht umgekehrt.

Noch ist nicht klar, worüber genau diskutiert werden soll. Die Themenliste ist potenziell riesig; allein, wenn man sich auf den Zusammenhang „Digitalisierung, Arbeit und Soziales“ beschränken wollte, wäre sie lang. Prinzipfragen der Mitbestimmung stellen sich, die der Weiterbildung, der Zukunft der Sozialversicherung, der Beschäftigungsformen und ihrer Absicherung – angefangen von der Vollzeit bis hin zur „Solo-Selbstständigkeit“. Auf den Tisch kommen wird sicherlich die Frage nach Arbeitsplatzverlusten durch Automatisierung und Robotisierung und wie man ihnen vorbeugt, beziehungsweise sie begleitet, falls es dazu kommt.

In Deutschland hat das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit erst nach der Veröffentlichung von Arbeiten 4.0 erstmals eine Projektion veröffentlicht, in der die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Beschäftigung nicht nur für die Industrie, sondern auch auf den Dienstleistungssektor geschätzt werden. Bis 2030 könnten von 43,3 Millionen Arbeitsplätzen 1,5 Millionen verlorengehen, aber ebenso viele neu geschaffen werden. Hinter dem Nullsummen-Szenario aber würden immense Umschichtungseffekte zwischen Branchen vor sich gehen: Zunehmen würde die Beschäftigung in Bereichen wie ICT, Naturwissenschaften oder in der Ausbildung. Rückläufig werde sie vor allem in der verarbeitenden Industrie sein und in erster Linie wenig Qualifizierte treffen. Für die USA hat der Barack Obama im Dezember vorgelegte Bericht etwas Ähnliches vorhergesagt: Von Arbeitsplätzen, an denen weniger als 20 Dollar die Stunde verdient wird, könnten 83 Prozent „under pressure“ geraten, wegautomatisiert zu werden.

Bem Treffen der Sozialpartner mit dem Wirtschaftsminister vergangene Woche hat der OGBL-Präsident darauf gepocht, dass Vertreter der Gewerkschaft an sämtlichen thematischen Arbeitsgruppen beteiligt werden und nicht nur an der über „Arbeit und Beschäftigung“. Die Digitalisierung sei eine Riesen-Gestaltungsaufgabe für die gesamte Gesellschaft, sagt Roeltgen. Der Datenschutz und der Schutz der Privatsphäre seien im Big Data-Zeitalter auch Garanten für die Selbstbestimmung der Bürger in der Demokratie. Bei der von Jeremy Rifkin beschriebenen „smarten“ Zukunft aus energieeffizienten Häusern und fahrerlosen Autos stellten sich „überall“ soziale Fragen. „Zum Beispiel, ob sich das jeder wird leisten können, und was das eventuell mit Steuern zu tun hat.“

Eine spannende Frage um die Digitalisierung wurde bisher noch kaum gestellt: Was soll sein, wenn die Post-Rifkin-Diskussion in dieser Legislaturperiode noch zu keinen Resultaten führt? Zwar hat der Wirtschafts- und Sozialrat hat sich des Themas angenommen, die Diskussionen der Sozialpartner mit der Regierung aber dürften beendet werden, ehe der Wahlkampf zu den Kammerwahlen beginnt. Viel Zeit für konkrete Entscheidungen bleibt nicht mehr. Wenn dafür gesorgt werden soll, dass die nächste Regierung die Diskussion mindestens für genauso wichtig hält wie die DP-LSAP-Grüne-Koalition, dann müsste der Dialog eigentlich institutionalisiert werden. Früher gab es in Luxemburg für solche Zwecke ein Gremium.

Peter Feist
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