Am Abend des 9. Mai 1940 machte eine Gesellschaft bestehend aus Baron Gustav von Puttkamer, seiner Ehefrau Marie, ihrem Nachbarn Graf Alfred von Oberndorff und dessen Tochter Elisabeth sich von Bettendorf bzw. Moestroff auf den Weg in Richtung Grundhof, einem abgelegenen Landgut nahe der deutschen Grenze (Kanton Echternach). Anlass war die Feier des 60. Geburtstag von Baron von Schorlemer. Zu den etwa zwanzig geladenen Gästen zählten Mitglieder fast aller im Großherzogtum ansässigen Adelsfamilien. Man kannte sich gut, war teils miteinander verwandt. Die ausgelassene Stimmung der Feiernden sollte jedoch nicht lange anhalten.
In jenen frühen Morgenstunden des 10. Mai waren auf den Straßen Luxemburgs nämlich auch andere „Gäste“ unterwegs. Bereits auf dem Heimweg stieß Gustav mit seinem Fahrzeug auf Straßensperren der Wehrmacht. Als er endlich in seinem Schloss in Bettendorf ankam und Schlaf gefasst hatte, wurde er „gegen 4 oder 5 Uhr“ durch den Lärm deutscher Tiefflieger geweckt. Ein wenig später marschierten Truppen in der Straße vor seinem Anwesen auf 1.
Diese Geschehnisse markierten den Anfang einer verhängnisvollen Verstrickung, die für etliche Gäste der Geburtstagsfeier damit enden sollte, dass sie sich nach der Befreiung mit juristischen Verfahren und dem Vorwurf der Kollaboration konfrontiert sahen. Für Gustav von Puttkamer sollte dieser Lebensabschnitt mit einem unrühmlichen Abgang aus Luxemburg enden. Die Weichen für dieses Debakel wurden jedoch bereits vor seiner Geburt gestellt.
Ein Preußischer Außenposten
Gustavs Großvater, der preußische Offizier Alwin von Puttkamer (1811-1885), heiratete 1843 die luxemburgisch-belgische Adelige Julie d’Olimart (1818-1898), Erbtochter des Schlosses Bettendorf2. Somit fasste eine der angesehensten Familien des Pommerschen Landadels Fuß im Großherzogtum. Die Geschichte dieses Junker-Clans ist eng verwobenen mit dem Aufstieg der Großmacht Preußen: Otto von Bismarcks Ehefrau war eine gebürtige Puttkamer. Bis 1880 dienten mehr als 250 Mitglieder im Offizierkorps; mehr als 15 stiegen gar zum Rang eines Generals auf. Auch im zivilen Staatsapparat bekleideten die Puttkamers hohe Ämter3.
Entgegen der protestantischen Konfession des Vaters wurden die Kinder des Luxemburger Zweigs zwar katholisch getauft, aber in vielerlei Hinsicht blieben auch die hiesigen Puttkamers der Preußischen Krone treu. Noch 1870 nahm Alwin, dann bereits Generalmajor im Ruhestand, am Krieg gegen Erzfeind Frankreich teil. Sein Sohn Adolf (1847-1925) verspürte scheinbar auch wenig Affinität für seiner Wahlheimat Luxemburg. In erster Ehe heiratete er eine Deutsche, Gräfin Irene von Ingelheim (1856-1888), in zweiter Ehe eine Belgierin, Gräfin Eugénie de Borchgrave d’Altena (1861-1934). Gemäß der Familientradition diente auch Adolf im preußischen Heer. Bevor er die Verwaltung von Schloss Bettendorf und seinen hundert Hektar Boden und Wald übernahm, war er Major und nahm ebenfalls teil am Deutsch-Französischen Krieg4.
„Das lassen wir uns nicht bieten“
Dass dieses diffuses Loyalitätsverhältnis zum Gastland Luxemburg zu Problemen führen würde, zeichnete sich erstmals 1910 ab. Bezüglich einer Diskussion über „konfessionslose Schulen“ beklagte Baron von Puttkamer sich in einem Brief im Luxemburger Wort über die „Schmähung der Religion“. „Eine Schule und ein Volk ohne Religion“ seien seines Erachtens „das größte Unglück für jedes Staatswesen.“5 Seitens der sozialistischen Presse reagierte man in scharfem Ton auf diese Intervention: „Übrigens wenn’s dem Junker hierlands nicht passt, er ward nicht um seine Meinung gefragt, so mag er sich scheren wo er hergekommen ist.“6
Zwei Jahre später spitzte sich diese Schulgesetzaffäre nochmals zu7.Ein Dreigestirn bestehend aus Graf Berlaymont, Graf Villers und Baron Puttkamer tritt bei einer „katholischen Kantonalversammlung“ in Clerf auf und stilisierte sich dort als Verfechter der alten Ordnung: „La Noblesse du Grand-Duché luttant côte à côte avec les paysans des Ardennes pour la foi menacée du peuple luxembourgeois.“8 Bei der Veranstaltung wurde u.a. durch Pierre Prüm aufgerufen zum Kampf gegen „den gehässigen, sektiererischen Antiklerikalismus“ der mit dem laizistischen Gesetz ein „Attentat auf die christliche Schule“ beabsichtige9.
Wiederum stießen Puttkamers „Krautjunkermanieren“ auf Widerstand. Die linksliberale Zeitung Die Neue Zeit warf Adolf, dem „lästigen Ausländer“, vor die Luxemburger wie „Rekruten“ und ihr Land wie „einen Kasernenhof“ zu betrachten: „Das lassen wir uns nicht bieten“.10
In Anbetracht dieser politischen Ausrichtung ist es nicht verwunderlich, dass es Hinweise gibt, dass Puttkamer Annäherung suchte zu jenen Kreisen, die in Großherzogin Marie Adelheid eine Hoffnungsträgerin und Hüterin der bestehenden Verhältnisse sahen. So wurde zum Beispiel im April 1914 Adolf von Puttkamer zusammen mit dem eben erwähnten Graf Villers, Bischof Koppes, verschiedenen Höflingen und mehreren Offizieren aus Trier „zur großherzoglichen Tafel geladen.“11 Im Dezember 1915 wurde angeblich ein „Herr von Puttkamer in feldgrau“ gesichtet bei einer Kundgebung zur Unterstützung der jungen Monarchin12.
Ehrensalven und Kriegslieder
Wie viele seiner Vettern auf ihren ostelbischen Gütern, so glaubte auch Adolf auf seinem preußischen Vorposten – Schloss Bettendorf – den gesellschaftlichen Wandel ignorieren zu können. Die weltanschaulichen Fronten waren dermaßen verhärtet, dass die Kritik an seiner Einmischung in die hiesigen Entwicklungen nicht mehr zu ihm durchdrang. Ebensowenig schien die nächste Generation der Puttkamers – Adolfs Söhne – zu erkennen, dass der Krieg der sich ab Sommer 1914 anbahnte die Fundamente ihrer althergebrachten Welt –Thron und Altar – erschüttern lassen würde. Dass das Deutsche Kaiserreich den Nachbarstaat Luxemburg besetzte, stört die Brüder scheinbar ebenso wenig wie die Tatsache dass die Neutralität des Heimatlandes ihrer Mutter, Belgien, verletzte wurde. Ihre Loyalitäten lagen eh jenseits der Mosel. Pflichtgetreu zogen sie alle vier für den Kaiser in den Krieg.
Maximilian-Joseph fiel bereits im Dezember 1914 in der Schlacht an der Yser (Flandern). Die Ober-Moselzeitung berichtete über seine Beisetzung in Bettendorf: „Am offenen Grabe wurden drei Ehrensalven abgefeuert und ein Kriegslied gesungen.“13 Gustav leistete von 1913 bis 1919 als Kavallerie-Offizier Wehrdienst und wurde für seinen Einsatz mit u.a. dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Im September 1917 fiel Karl als Leutnant eines Sturmbataillons in Livland. Nach dem Abitur trat schließlich auch noch der jüngste Bruder Albert im letzten Kriegsjahr als Freiwilliger zum Dienst an14.
Als 1918 die Waffen endlich schweigen, befindet sich die altvertraute Gesellschaftsordnung der Puttkamer-Sippe im Umbruch. Das Ende des Kaiserreichs sowie der Versailler Vertrag führten dazu, dass die Familienmitglieder nicht mehr wie selbstverständlich prestigereiche Offizierskarrieren für sich beanspruchen konnten und man sich fortan in bürgerliche Berufe eingliedern mussten. Die Staatskrise bezüglich Großherzogin Marie-Adelheid sowie die anti-preußische Stimmung dürften wohl auch nicht sonderlich zum Ansehen der hiesigen Puttkamers beigetragen haben. Hinzu kommt noch ein finanzieller Aderlass: Der belgische Staat beschlagnahmt den gesamten belgischen Besitz der Mutter, Comtesse de Borchgrave, da sie durch ihre Heirat deutsche Staatsbürgerin geworden war. Bemühungen, um diese über den juristischen Weg zurückzuerhalten, bleiben erfolglos15.
„Lustig und charmant“
Als nunmehr ältester Sohn ruhte jetzt alle Verantwortung auf Gustavs Schultern. 1919 übernahm er als Stammhalter die Verwaltung des Schlosses Bettendorf. Seine Heirat mit Marie Reverchon (1895-1977), Tochter einer Trierer Bankiersdynastie, gab der Familie wieder etwas finanziellen Spielraum. 1920 erwarb Gustav gar das benachbarte Schloss Moestroff bei einer Versteigerung16.Er lässt sich dort nieder und baut ein neues wirtschaftliches Standbein auf, eine Sektkellerei. Die Zeitschrift Der Querschnitt beschrieb den Betrieb damals so: „[Gustav] ist lustig und charmant, wie es sich für einen Champagnerfabrikanten gehört. Das Etikett der Hausmarke trägt das freiherrlich von Puttkamersche Wappen und das Bild des alten Schlosses Möstroff.“17
Der anfängliche Erfolg dieser beruflichen Neuorientierung hielt jedoch nicht lange an. 1929, inmitten der Weltwirtschaftskrise, wird das Schloss Moestroff zur Versteigerung angeboten18.1934 kaufte der ehemalige Diplomat Graf Alfred von Oberndorff, der zuvor in Wallerfangen (Saarland) wohnte, das Anwesen19.
Dieser (relative) wirtschaftliche Abstieg, die Krisen der Weimarer Republik sowie die im Adel weitverbreitete reaktionäre Grundausrichtung tragen wohl dazu bei, dass Gustav, wie so viele seiner Standesgenossen, sich in den Dreißigern politisch radikalisierte. 38 Mitglieder der Familie Puttkamer schließen sich der NSDAP an20, und auch Gustav besaß ein Mitgliedsbuch. Der Bettendorfer Schlossherr ließ sich zudem in die antisemitische „Liste des reinblütigen deutschen Adels“ der Deutschen Adelsgenossenschaft (DAG) eintragen und war Mitglied im NS-Reichskriegerbund. 1934 trat er der von den Nazis unterwanderten Deutschen Kolonie in Diekirch bei21. Sein jüngerer Bruder Albert, der bis 1929 noch im Bankgewerbe tätig war, stand im Ruf unter dem Deckmantel einer Stelle bei der Deutschen Gesandtschaft in Luxemburg eigentlich dem deutschen Abwehrdienst zu zuarbeiten22. Teils aus Opportunismus, teils aus Überzeugung, biederten auch andere Adlige deutscher Herkunft im Großherzogtum, wie zum Beispiel Freiherr Franz von Hoiningen-Huene, sich in den Vorkriegsjahren beim Nazi-Regime an.
Auf der Pirsch
Nach der Besetzung Luxemburgs beteiligte sich Gustav von Puttkamer geflissentlich am deutschen Verwaltungsaufbau, und ließ sich z.B. zum ehrenamtlichen „Kreisrat des Kreises Diekirch“ ernennen. Solidarität mit oder Patriotismus für das Land, in dem seine Familie mittlerweile in dritter Generation wohnte, schienen ihm gänzlich fremd zu sein, und auch mit Belgien, dem Herkunftsland seiner Mutter, verspürte er keine Bindung. Schließlich meldete er sich auch freiwillig zur Wehrmacht, in der er im Rang eines Rittmeisters der Reserve dienen wird. Als er im Sommer 1941 erfuhr, dass Hoiningen-Huene versetzt wird, erhoffte Gustav dessen Stelle bei der Passierstelle in Luxemburg übernehmen zu können. Stattdessen wurde er jedoch nach einem Lehrgang in Berlin als „Leiter der Passierstelle“ nach Sofia entsendet. Bis Februar 1943 arbeitete er in der bulgarischen Hauptstadt, und anschließend in der gleichen Funktion in Wien (bis Juli 1944); ein Rädchen im Verwaltungsapparat des Dritten Reiches. Als die Alliierten aufrückten und die Befreiung Luxemburgs nahte, flüchtete Gustav mit seiner Ehefrau am 1. September 1944 nach Bernkastel und ließ sich schließlich in Wiesbaden nieder23. (Bruder Albert, in die Wehrmacht eingezogen, war im Januar 1945 bei Kämpfen bei Crossen an der Oder spurlos verschwunden und wurde 1952 für tot erklärt.24)
Ein Kapitel aus Gustavs Kriegsjahren blieb in Bettendorf besonders in Erinnerung: Am 10. Mai 1941, während eines morgendlichen Rundgangs durch sein Jagdrevier stieß Gustav zufällig auf drei aus Kriegsgefangenschaft entflohene Franzosen. Er führte sie unter Androhung seiner Schusswaffe zu seinem Schloss und überstellte sie schließlich der örtlichen Polizei. Diese klägliche Episode sorgte in der Bettendorfer Bevölkerung „für große Empörung“ und geistert noch immer durch Dorfgeschichten25.
Artificiosa non durant
Während die in der Sowjetzone gelegenen Landgüter seiner Vettern beschlagnahmt werden, erkundigte sich 1946 Gustav von seinem Wiesbadener Exil aus vorsichtig bei einem Notar über seine Luxemburger „Vermögensverhältnisse“. Die Staatssicherheit hatte den Schlossherrn nun auch im Visier und leitete erste Untersuchungen ein. Die Distanz, die die Familie Puttkamer gegenüber der Lokalbevölkerung pflegte, rächte sich. In Zeugenbefragungen entlud sich dieser Unmut: Gustav sei ein „Nazi vom Scheitel bis zur Sohle“ gewesen, und ein „Umgang mit gewöhnlichen Leuten war diesem Junker ostpreußischer Abstammung zu gering“. Er sei „ein richtiger Nazi“ und habe sich nie bemüht Luxemburgisch zu sprechen26. Dieser Zorn wurde wohl zusätzlich genährt durch die Tatsache, dass während der Ardennenschlacht Bettendorf durch Kriegshandlungen schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Die hessische Entnazifizierungsbehörde stuft Gustav als „Mitläufer“ ein27. Im Großherzogtum gestaltet sich die Verfolgung des Kollaborateurs jedoch schwieriger. Die Justiz beließ es schlussendlich bei der Beschlagnahmung seines Schlosses und bestempelte Gustav von Puttkamer fortan als „étranger indésirable“.
„Künstliches ist nicht von Dauer“ (Artificiosa non durant) lautet der Wappenspruch der Adelsfamilie, und vielleicht gilt dies auch für das Experiment einer preußischen Enklave auf Luxemburgischem Territorium: die gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Epoche verkannten Adolf und sein Sohn Gustav oder nahmen sie als Bedrohung wahr. Andere Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung (z.B. eine konstruktive Teilnahme an oder eine Integration in die hiesige Gesellschaft) lagen außerhalb des ihnen übererbten Denkrahmens, der sich primär an jenen deutscher Adelsmilieus orientierte und darin verhaftet blieb. Während der Krisen des Zwischenkriegszeit fand Gustav im aufstrebenden Nationalsozialismus Anknüpfungspunkte zu den destruktivsten Elementen aus der Ideenwelt seiner preußischen Vorväter: Nationalismus, Militarismus, Untertanengeist und Rückwärtsgewandheit. Diese Fehlrechnung – die Kollaboration mit einem verbrecherischen Regime – führten letzten Endes dazu, dass ein Jahrhundert Puttkamer’sche Familiengeschichte im Großherzogtum Luxemburg auf schmähliche und leise Weise ausklang..