Theater

Die vergessenen Geschichten der Wolken

d'Lëtzebuerger Land vom 26.10.2012

„Marschieren wir etwa? Nein, wir sitzen und brüten und handeln im Sitzen vor Schirmen. Tasten die Tasten nach Wirklichkeit ab, erfinden sie neu. Wir sind die Ertaster einer neuen Wirklichkeit, die ganz aus Schnelligkeit besteht.“ Diese Textstelle zeugt wie viele andere von der sprachlichen Wucht des neuen dramatischen Werkes von Nico Helminger, Zu schwankender Zeit und an schwankendem Ort, das nach seiner Erstaufführung in Recklinghausen in den vergangenen Wochen im TNL von Anne Simon inszeniert wurde. Helmingers Vorlage überfordert das Publikum durchaus, ist aber zugleich großes Theater.
Es würde eigentlich wiederholter Besuche bedürfen, um die Figurenkonstellation des Dramas genauer zu überblicken, die unterschiedlichen Identitäten herauszufiltern und unmissverständlich zu erfassen. Wen aber wundert’s, wenn laut Anne Simon sogar das Ensemble das Beziehungsgeflecht nur schrittweise und nie vollständig zu durchschauen vermochte.
Diese möglicherweise zu komplexe Struktur der Handlung fügt sich jedoch zugleich ein in die Thematik eines starken Neuwerks. Jeweils mimt ein Darsteller zwei Figuren: Christiane Rausch etwa die gnadenlose Arbeitgeberin Van Valen und die auf ihren Sohn wartende Altenheimbewohnerin Claire. Yannick Géraud spielt sowohl einen Angestellten voll im Leben als auch einen zynischen Asylanten, den „Fremden“. In diesem undurchdringlichen Gewebe an Akteuren einer immer undurchsichtigeren „westlichen“ Gesellschaft bringt es Martin (genial: Ulrich Kuhlmann!) auf den Punkt: „Wir sind gezwungen, uns zu behaupten in einer Welt, deren Ordnungsprinzipien wir nicht mehr durchschauen.“
In Helmingers Dialogen geht es nur vordergründig um den stumpfen, mittlerweile weich gekochten Exhibitionismus von Gewinnern und Verlierern einer turbokapitalistischen Gesellschaft. Zu schwankender Zeit und am schwankenden Ort kann vielmehr als Bilderserie jener biografischen Umbruchsphase gelesen werden, in der eine Neuorientierung der sozialen Akteure erforderlich ist und dabei das eigene Ich kein Opfer der Selbstlüge werden darf, aber werden wird. Helmingers Figuren machen sich etwas vor, sei es im Bereich eines intakten Familienlebens oder beruflicher Erfolge. Die jeweilige Bedeutung von Gewinn und Verlust verschwimmt.
Vergleicht man diesen Helminger etwa mit den Vorgängern Pink Slip Party oder Dow Jones, so entsteht der Eindruck, Helminger habe mit seinem Neuwerk wieder zu einer Sprache gefunden, die nicht modern, aber platt, nicht gepflegt, aber altmodisch, sondern modern und gepflegt daherkommt. Zu schwankender Zeit und an schwankendem Ort ist ein sprachlich herausragendes Drama.
Mit Anouk Schiltz’ dreidimensionalem Schrägschnitt eines völlig sterilen, kalten Raumes greift Regisseurin Anne Simon auf eine praktische Bühne zurück. Aus den Wänden und dem Bodenbelag schießen weiße, kubusförmige Stehlen heraus, die sich zu Wänden und Betten verschieben lassen. Quadratische Türchen lassen sich öffnen. Der Raum ist Altersheim, Firmensitz und PKW zugleich. Durch diese Räume führt Simon ihre Darsteller von Nickel Bösenberg über Brigitte Uhrhausen bis hin zu Gintare Parulyte in sehr klarer Choreografie. Diese dient stellenweise einer Unterstützung für Helmingers Text (so etwa das gelangweilte Zusammensitzen von Jean und Claire im Altersheim) oder skurrilen Kontrasten (der verwirrte Blick von Richard durch das Autofenster auf die eigentlich sehr viel verlorenere Carole).
Kuhlmann, dessen jeweilige Rollen von tiefem Zynismus durchdrungen sind, ragt aus der Produktion sowohl als Darsteller als auch in seiner Doppelrolle besonders hervor. Wiederholt versucht er das Schwanken seines Umfeldes, die bösen Spielchen der Orientierungslosen mit dem lyrischen Gedicht Feiner Herbstregen zu brechen. Doch dieses Leben lässt bis kurz vor Schluss keine Poesie zu: „Ich habe immer auf Erneuerung gesetzt und war doch zu spät. ‚Da die Welt sich dreht, warte ich hier solange, bis mein Haus vorbeikommt’ ist ein guter Satz in einem Roman, in Wirklichkeit aber nicht zu gebrauchen.“
Identitäten verlieren sich, spielen sich etwas vor, schaffen ein Alter Ego, um Glück zu empfinden. Dabei haben Helmingers Figuren längst vergessen, was dieses große Wort wohl bedeutet. Die Arbeitgeberin Vivian bringt dieses „Wettrüsten“ der vermeintlichen Selbstverwirklichung auf den Punkt, wenn sie von den Wolken spricht, die von Geschichte und Lebenstiefe zeugen: „Die Wolken sind ungeheuer vergänglich. Ich mag diese Zeit wachsender Geschwindigkeit. Ich mach mich gerne ein bisschen lustig über meine Ruderer. Dann sage ich: Führung bedeutet, den Mitarbeiter so über den Tisch zu ziehen, dass er die Reibung als Nestwärme empfindet. Dabei legen sie sich toll in die Riemen.“
Literarische Vorlage und Inszenierung sind trotz der stellenweise zu komplexen Struktur bemerkenswert. Die menschliche Selbstlüge im Wetteifer einer heuchlerischen Leistungsgesellschaft findet hier ein ästhetisches Forum.

Zu schwankender Zeit und an schwankendem Ort von Nico Helminger; Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Théâtre national; Regie von Anne Simon; Bühne von Anouk Schiltz; mit Ulrich Kuhlmann, Christiane Rausch, Nickel Bösenberg, Brigitte Urhausen, Yannick Géraud, Gintare Parulyte. Keine weiteren Vorstellungen.
Claude Reiles
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