Die kleine Zeitzeugin

Kollateralschaden

d'Lëtzebuerger Land du 17.12.2021

Noch lebt er, noch ist es zu früh für verklärt-verschämte Nachrufe. Spiegel-Cover mit Silberhaar, dem weichlichen Gesicht, dem undurchschaubaren, leicht verschmitzten Blick. Noch lebt er, wie uninteressant, irgendwie störend. Irgendwie alle störend. So ein leibhaftiges Denk-mal. Die einen weil logisch, die andern weil eigentlich. Eigentlich müsste man ja. Eigentlich. Eigentlich. Aber er läuft ja nicht weg.

Grad keine Zeit für so was. Grad Krebs oder Kinder oder beides, grad ein Job oder keiner. Und Corona, für alle. Und dann stehen ein paar da mit Schildern, und mahnen, an einer Ecke, vor einer Botschaft. Ein paar, die sich erinnern, vage, da war doch mal was, da war mal was. Was? Werte hieß das glaub ich, nein, nicht Bitcoinkrypto, die anderen. Die dekorativen. Und so was Altmodisches, so 19. Jahrhundert, Pressefreiheit hieß das mal. Dann geht das Leben weiter, und er vergeht weiter. Fading away.

Was soll man mit Blut von gestern, der blasse Typ hat seine Schuldigkeit getan, jetzt ist er eben schuld? That’s life, sagen die Abgeklärten, die Realos, wer legt sich schon mit den USA an? Das muss ein Irrer sein. Kindischer Kamikaze, Narziss-Nerd, Drachentöter-Komplex. Größenwahnsinn mindestens. So eine Persönlichkeitsstörungspersönlichkeit.

Er war ja so schön verdrängt, zuerst die ekuadorianische Botschaft, das hatte noch so einen Hauch von Romantik. Revolution, Peyotl, Greisinnen wird träumerisch zumute. Ein in einer südamerikanischen Botschaft chillender Hero, manchmal tritt er auf den Balkon und hält eine Rede an seine Jünger*innen.

Sowieso, was soll das für ein Hero sein? Einer der Frauen bedrängt, nötigt. Das Allerletzte, ein Vergewaltiger. Dann, viele eingesperrte Jahre später doch keiner. Kein richtiger. Aber doch. Ein Schmieriger, das Unappetitliche bleibt. Er stinkt, Kacke auf Botschaftswänden. So wird es gestreut. So bleibt es haften. Für so einen geht keine mehr auf die Straße. Einen widerlichen alten weißen Mann. Er schaut aus wie ein Greis. Und ist er nicht Nazi und hat er nicht Clinton auf dem Gewissen und ist er nicht pädophil?

Diese Bilder. Wir haben ja immer so Angst vor schrecklichen Bildern, die Politiker*innen beschwören in den Talkshows so gern schreckliche Bilder, die keiner sehen will. Wir haben sie gesehen. Er hat sie der freien Welt unter die Nase gerieben und verlor dafür seine Freiheit, klarer Deal. Und wir haben schnell wieder weggesehen, klar, wir müssen wegsehen, was sollen wir sonst tun? So geht Resilienz. Sowieso weiß das sowieso jede.

Angeklagt wird Assange wegen der Veröffentlichung von den Kriegsverbrechen der USA zeigenden Dokumente. Nicht weil er nicht nett zu seiner Katze war. Oder Scheiße zu Frauen. Nicht weil er kein vorbildlicher Mensch ist, vielleicht gar ein fieser Typ. Angeklagt wird er, weil er auf der von ihm gegründeten Plattform Wikileaks sich das Recht auf ungehinderte Ausübung medialer Tätigkeit, also auf die staatlich unzensierte Veröffentlichung von Nachrichten und Meinungen nahm. Ein Recht, das Naive noch zumindest in der Westwertewelt für gegeben hielten. Für garantiert. Einst Pressefreiheit geheißen, eine der wichtigsten Errungenschaften im Zuge der Aufklärung in „unseren“ Demokratien. Auf so was sind wir stolz, wenn wir mit Riesenfingern auf die Diktaturen und ihre unverblümte Presseunfreiheit zeigen. Auf die ermordeten Journalist*innen im Putinreich, auf die von der Bildfläche verschwundenen Opfer des altertümlichen Despoten Lukaschenko, in dessen Reich politische Gegner*innen schlicht Verräter*innen sind.

Großbritannien schuf 1695 die Zensur ab, heute liegt es im Pressefreiheitsranking auf Platz 33, die USA auf Platz 44 von 180 Ländern. Assange kann an die USA ausgeliefert werden, wo ihm all diese absurd vielen Jahre einer Vernichtungshaft drohen. Wenn schon keine Hinrichtung, dann doch die Vernichtung. Den Menschen obsessiv mehrmals töten, ihm viele Leben nehmen, alles Leben, und jede Hoffnung. Pressefreiheit war mal was Selbstverständliches, zumindest im Selbstverständnis. Nichts, über dessen Schwerstverletzung man mal, Kollateralschaden, blöd gelaufen, achselzuckend hinwegsieht.

Michèle Thoma
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