Die kleine Zeitzeugin

Bitte ein Weihnachtsmärchen!

d'Lëtzebuerger Land du 26.11.2021

Es soll wieder alles gut sein. Es soll wieder so sein, wie es früher auch nicht war. Mit Schnee. Mit Glitzer. Sterne in den Augen, sternhagelvoll.

Alle waren schon geübt, es war schon zu bewältigen. Die Starre der Inszenierungen und Installationen aus dem vorigen Jahrhundert war längst froher Flexibilität gewichen, Konsumparty X-mas war superinklusiv, der Engellook geil. Wellness-Weinnachten hatte seinen Schrecken verloren, statt miesepetriger Angehöriger prosteten die friends einander zu, auf dich, auf uns, auf Jesus, why not? Der winkte aus einer Krippe mit Kunst, alles gut. Die noch immer Traumatisierten oder die, die auch diesem Zirkus entfliehen wollten, zog es an sg. Traumstrände, an denen sie dann Weihnachtsroboter, hi, begrüßten.

War doch gar nicht so schlimm. Und manche wurden gar heimbesucht, Jahr um Jahr, von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer, von etwas was man Rührung nennt. Plötzlich laut Stille Nacht singen. Inmitten von Menschen, die auch plötzlich einen Anfall hatten, sie mussten es nicht tun. Es war total freiwillig. Niemand musste das mehr tun. Es war ein sentimentaler Luxus.

Wird es bis Weihnachten weg sein? Wird es ein normales Weihnachten geben, geht die beklommene Frage um, als hätte es je so was gegeben? Wieder vielleicht nicht. Wieder vielleicht wahrscheinlich nicht, oder alles nur ohne alles. Wieder nur light. Also schwer. Nur mit Kalorien und Promille. Mit Maske in einer Mitternachtskirche ohne Glühwein. Nur im Teufelskreis der Allerliebsten, im Hochrüstungstrakt Innenraum, betretbar nach allen möglichen Sicherheitsvorkehrungen wie das Atommuseum Tschernobyl. Die friends posten einander zu.

Kein Weihnachten, was auch immer wir uns in den letzten Jahren daraus zusammenbastelten, Jesus mit welchem Geschlecht auch immer, Lichtorgien im Reihenhaus oder auch nur der traditionelle Kaufrausch. Manche nannten es Winterfeier, aber das klingt so brutal neutral. Statt gemütlich neurotisch. Ein Jahresende an dem das Jahr schon wieder so sang- und klanglos verenden soll, so ohne Schall und Knall und Rauch, so egal wie, so einfach weg, und das nächste schon da, so einfach da. Da halt. So usw.

Das kann doch nicht so weiter gehen, so schwer und so leer. Das kann doch nicht der Ernst sein, im Ernst jetzt. Ernst des Lebens. Das kann doch nicht so weiter gehen, dass nichts mehr weiter geht. Dass wir in einer Zwischenwelt leben, zwischen allem. Immer verblasster. Immer engere Kreise ziehen. Durch den zähen Nebel, es gibt keinen Horizont. Nur im Fernsehen. Da kommt schon die nächste Welle. Es ist ein Tsunami. Langsam, killing me softly, durchdrehen.

Das kann doch nicht so weitergehen. Ohne Plan. Plandemie, nennen es die Eingeweihten. Die sich genau auskennen, was nicht beneidenswert ist, manche buddeln schon Bunker. Die Virolog*innen hingegen scheinen sich immer weniger auszukennen, sie wissen einfach zu viel. Aber sie haben doch gesagt.

Sagen „Die Geimpften“. Sie haben ihnen doch gesagt. Man hat ihnen versprochen. Alles gut, das war doch der Deal. Sie haben ihn eingehalten. Sie haben sich an alles gehalten. Sie haben gemacht, was man soll, einmal, zweimal, dreimal, wackere Impfsoldat*innen, mitmenschliche Wesen, und sie werden nicht belohnt. Die andern nicht mal wirklich bestraft. Wobei, vielleicht bald schon. Alle inspirieren sich ja derzeit an Österreich.

Das ist so schön erschreckend. Was da alles möglich ist. Dieses Vorpreschen. Aus Österreich, dem Gruselpol auf der Coronakarte, gibt es aber aufmunternde Nachrichten: Mitten im Reich der Ultratoten Hosen darf das legendäre Ischgl bald „aufmachen“. Zwar nur tagsüber, das Kitzloch muss noch warten, und nur für Einheimische. Aus allen Kanonenrohren schießt es dann Kunstschnee, die geimpften Einheimischen fatbiken, nehmen an Ur-Ski-Rennen teil und an Wettkämpfen, die mit frühen, Würmer fangenden Vögeln werben. Die geimpften Einheimischen kaufen einander Lebkuchenherzen mit Love. So beginnen Märchen.

Michèle Thoma
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