Leitartikel

Nationaler Produktivitätsrat

d'Lëtzebuerger Land vom 19.01.2018

Was einst der Index war, ist mangels Inflation nun auf dem besten Weg, zum ­neuen Panikwort und politischen Kampfbegriff zu werden: die Produktivität. Premier­minister Xavier Bettel (DP) und seine liberale Koalition hatten vor zwei Jahren den Wirtschafts- und Sozialrat mit einem Gutachten beauftragen wollen über „das Prinzip und die etwaigen Umstände eines Zusammenhangs zwischen Lohnpolitik und Produktivitätsentwicklung“. Mit unanfechtbarer Wissenschaftlichkeit sollten die Sozial­partner herausfinden, dass die Löhne nicht schneller als die stagnierende oder gar rückläufige Produktivität wachsen sollen.

Doch mit diesem seit Jahren von der Unternehmerseite geforderten und mehr oder weniger explizit von allen politischen Parteien anerkannten Zusammenhang war der Regierungschef nicht durchgekommen. Deshalb einigte man sich darauf, mit einem Umweg ans Ziel zu gelangen: Zuerst sollten weitschweifig die „Produktivität, ihre Determinanten und Resultanten in einem internationalen Zusammenhang“ analysiert werden, um zur Schlussfolgerung zu kommen, dass kein Weg an der vor zwei Jahren von den Wirtschafts- und Finanzministern der Europäischen Union beschlossenen Gründung eines nationalen Produktivitätsrats vorbei führt.

Das entsprechende Gutachten liegt diese Woche vor: Nachdem sich die Autoren durch die einschlägige Literatur gekämpft, die Paradoxe und Inkonsequenzen der Produktivitätsberechnung erwähnt und dem Statec die üblichen guten Ratschläge erteilt hatten, kamen sie nicht mehr an der Schlüsselfrage vorbei, ob die Arbeitsproduktivität zu niedrig ist, wie von Unternehmerseite behauptet, oder zu den höchsten der Welt gehört, wie es in den internationalen Studien heißt. Der Wirtschafts- und Sozialrat rechnet vor, dass in den vergangenen 20 Jahren in der gesamten Volkswirtschaft die Bruttowertschöpfung und die Beschäftigung um die Hälfte zugenommen, die Produktivität aber stagniert habe. Die Unternehmerseite triumphiert: „Wir haben es ja schon immer gesagt!“ und beklagt, dass seit dem Jahr 2000 die Reallöhne schneller gewachsen seien als die Produktivität. Die Gewerkschaftsseite sucht eine Erklärung darin, dass die in der Produktion verbrauchten Vorleistungen schneller zunahmen als die Produktion, und dass die Produktivitätsberechnung im hierzulande überentwickelten Dienstleistungsbereich sowieso abenteuerlich sei.

Weil der Wirtschafts- und Sozialrat sich seit Jahren nur noch in unwichtigen Fragen einig wird und die Sozialpartner sich in diesem Fall schwer taten, gemeinsam der Regierung die Schuld für ein wirtschaftliches Problem zuzuschieben, war es dem Gremium aus Unternehmern, Gewerkschaftern und Regierungsbeamten nicht möglich, sich auf gemeinsame Empfehlungen zu einigen. Deshalb beruft sich die Unternehmerseite auf den von EU-Staaten und multinationalen Gesellschaften betriebenen Brüsseler Thinktank Bruegel, der verlangt, dass die Lohnbildung den Zielen der Euro-Zone gehorcht und ein nationaler Wettbewerbsrat eine nationale Lohnnorm überwacht, um künftige Wettbewerbsprobleme zu verhindern.

Die Unternehmer befürchten wohl nicht zu Unrecht, dass die Gewerkschaften mit ihrem Gegenvorschlag, die Produktivität unter möglichst vielen Aspekten zu untersuchen und statt eines nationalen Produktivitätsrats den Wirtschafts- und Sozialrat mit dieser Untersuchung zu beauftragen, den Forschungsauftrag verwässern und vom hehren Ziel weiterer Lohnmäßigung ablenken wollen. Doch dass die Produktivität ausgerechnet durch ein weiteres der vielen, mit immer denselben Beamten und Lobbyisten besetzten, sehr sachverständigen und sehr unabhängigen Gremien zur Wirtschafts- und Finanzpolitik gesteigert werden soll, erinnert an die Versuche, die Bürokratie mittels neuer Kommissionen und Arbeitsgruppen einzudämmen.

Romain Hilgert
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