Heute vor fünf Jahren starb der Dichter Jean Krier. Eine bretonische Spurensuche als Hommage an sein lyrisches Werk

In weiter Ferne lauter Licht

Die südliche Baie de Penn ar Roc’h
Foto: Samuel Hamen
d'Lëtzebuerger Land vom 12.01.2018

Die Farbe des Meeres vor der Île d’Ouessant ist die erste Herausforderung. Ist es türkisfarben? Mattblau? Mit einem Stich ins Pastellgrüne? Und wie ließe sich dieser gleißend-kalte Schimmer auf den Wellen in Worte fassen? Es bleibt eine Ahnung, aber eine frohgemute: Der luxemburgische Lyriker Jean Krier wird sich bei seinen Reisen nach Ouessant diese Fragen so oder so ähnlich gestellt haben.

Wie in einem miesen Piratenfilm kam vorhin, nach gut eineinhalb Stunden Fahrt, Land in Sicht. Aber niemand schrie daraufhin Offensichtlichkeiten in den Atlantik hinaus. Vielmehr herrschte an Bord der Fromveur 2 die leicht angeödete Geschäftigkeit von Küstenbewohnern, die weder Blick noch Muße haben für das Meer unterhalb, für den Himmel oberhalb des Horizonts. Koffer wurden ergriffen, Hundeleinen gezückt, die zweite Flasche Kronenbourg geleert. Als wir schließlich von Bord gingen, fühlte ich mich auf erfreulich ehrliche Weise bereit für einen kleinen Aufbruch zur westlichsten Insel des Départements Finistère.

Ab Mitte der 80-er Jahre ist Jean Krier regelmäßig hierher gefahren, teilweise mehrmals im Jahr. Die knapp 16 Quadratkilometer große Insel Ouessant wurde dem Autor über die Jahrzehnte zum Fixpunkt seines schriftstellerischen Schreibens. Vielen Versen ist diese topographische Vernarrtheit eingeschrieben, und wer auf gut Glück einen seiner insgesamt fünf Gedichtbände durchblättert, stößt schnell und zuverlässig auf Ouessant-Passagen. Gleich der Erstling trägt etwa den Titel Bretonische Inseln. Der Band erschien 1994 im Kleinverlag Landpresse und erfuhr 2006 im etwas weniger kleinen Kleinverlag Rimbaud eine Wiederauflage. Und im ersten Großkapitel von Tableaux – Sehstücke (2002) sind unter dem Titel Marines ausschließlich Meer- und Küstengedichte zusammengefasst. Ja, auf eine besondere Weise scheint sich Jean Kriers Poesie an dieser Insel auszurichten, sie immer wieder zum Seh- und Schreibanlass zu nehmen.

Alles satt, klar und unnachgiebig

In Bretonische Inseln begegnet uns jene Energie, mit der sich der Lyriker Krier sein Gebiet nach und nach erschreibt. Dabei legt er eine Verve an den Tag, mit der gemeinhin Fahnen in Böden gerammt werden, um das Terrain für sich zu beanspruchen. Im Zyklus Sommer 1986 heißt es am Ende des zweiten Gedichts: „Hier will ich bleiben, / dem Meer / nicht mehr fahren / über die runzlige alte Haut. / Hier bau ich mir / meine Ruine, zieh mir / über die Ohren das Fell, hier / soll alles / bei mir / an die falsche Adresse geraten im Heidekraut / 60m über dem Meer.“

Anfang Januar blüht das Heidekraut freilich nicht. Aber 60 Meter bleiben auch im bretonischen Winter 60 Meter, und während der fast schon zu kurzen Fahrt vom Hafen nach Lampaul lässt sich die Umgebung aus dieser insularen Erhabenheit heraus begutachten. Die Regler für die Farbsättigung müssen von irgendeiner listigen Hand während der Zeit auf der Fähre hochgesetzt worden sein. Das Gras ist grün, der Himmel blau, die Wolken weiß. Keine Chance für Nuancen und Finessen – hier ist alles satt, klar und unnachgiebig.

Für jeden Blickfang und jede Stimmungsschwankung geben diese Gedichte etwas her, auch für diese Ankunft bei fast schon einschüchternd schönem Wetter: „Wieder so ein Tag, je connais le coin u den Schritt, / gewiss. In jedem Zimmer das Meer, wie Felsen / galoppieren die Wolken. Ein Leben, als hätten wir es gewollt.“ Und im Eröffnungsgedicht von Tableaux – Sehstücke heißt es: „Sofort stellt Durst sich ein / auf mehr, immer mehr / Meer, ewig leer. Damit ist der Rahmen abgesteckt: Wellen / Brechen und Biegen. Ständige / Störung.“

Zugleich ist die Insel das Gegenteil des Paradieses: ein lahmer Ort, weganästhesiert vom Winter, weggeschoben ans Ende der Welt. In Lampaul herrscht die Schläfrigkeit eines Dörfchens, das an der äußersten Peripherie einer einst halbwegs bedeutenden Stadt vor sich hindämmert. Bloß gibt es hier keine Metropole, auf die alles hinaus- und hinzuläuft. Hier geht alles immerzu meerwärts, hin zu den Klüften und zur Gischt. Auch dies steht schnell fest: Ouessant ist karg und kündet von einem herben, entbehrungsreichen Leben. Im Gedicht Eines Blickes zu würdigen auch aus Kriers viertem Band Herzens Lust Spiele (2010) heißt es: „Warum läufst da auf den Felsen herum, / so kahl, so karg u wahr, an diesem Meer / so platt, si crevée u die heiseren Schreie / der Tiere.“

Traue also nicht der schnellen Tröstung. Gib dich ja nicht einem allzu hübschen Anblick hin. Denn die Schönheit ist nicht ohne Störung zu haben, das Meer nicht ohne Untiefen, das Glück nicht ohne sein niederschmetterndes Ende. Abbrüche, Überbleibsel, Kippmomente und Inkohärenzen – bei Krier ist all dies auch formales Prinzip seiner Lyrik. Bekannte Redewendungen, die abrupt enden, stehen neben verkürzten Gedanken, bei denen wir das Glück beziehungsweise die Bürde haben, sie selbst zu Ende denken zu müssen.

„Man tut, was man muss.“

Für Herzens Lust Spiele wurde der 1949 geborene Jean Krier mit renommierten Preisen ausgezeichnet. Ihm wurde der Adelbert-von-Chamisso-Preis zugesprochen, eine Auszeichnung, die an Autoren vergeben wird, die auf Deutsch schreiben, ohne gebürtige Muttersprachler zu sein. Neben Krier waren unter anderen Ilija Trojanow, Ann Cotten und Rafik Schami Preisträger. Zudem erhielt Krier im selben Jahr den Prix Servais, den wichtigsten Literaturpreis Luxemburgs. In seiner Dankesrede, die er anlässlich der Verleihung im CNL hielt, sagte er an einer Stelle: „Die Antwort auf das ‚Warum‘ ist, wie sich das für einen Lyriker gehört, kurz und bündig: Man tut, was man kann. Auf theoretische Erklärungen wird verzichtet.“

Wer sich auf Kriers Werk einlässt, wird früher oder später ergänzen: „Man tut, was man muss.“ Denn diese mal grasweiche, mal von Wind und Salz verätzte Landschaft ist als eine Art Prüfung zu betrachten: Finde ich hierfür ein Wort, eine Formulierung, einen Vers? Ouessant als Schreibaufgabe – wer mit einer gewissen Dichtungslust hierhin reist, wird notwendigerweise getriggert und zum Schreiben verleitet. Schließlich gilt es, die Eindrücke umzumünzen, abzuwälzen, sie einzustampfen in Worte. Bei Krier entsteht hieraus ein beeindruckend produktives und vielgestaltiges Werk, das nur einen felsigen Streifen Land braucht, um eine ganze Existenz durchzudeklinieren.

Spät, am Ende des zweiten Nachmittags, werden uns dann Regen, Böen und Kälte entgegengeschleudert, als abendliche Maßnahme gegen zu unbedacht und heiter verbrachte Tage. Wer wie Krier Sommer und Winter hier verbracht hat, hat natürlich auch hierfür einen Dreizeiler parat: „Jetzt werden die Letzten noch über die Felder, / Felsen u Fluren gejagt, dann aber kein Mensch mehr: / einsam wie immer. Es ist doch eine mächtige Zeit.“

2014 erschien dann der Nachlassband Eingriff, sternklar, ein Jahr nachdem Jean Krier nach langer Krankheit am 12. Januar 2013 gestorben war. In dieser Gedichtsammlung, die im Leipziger Lyrikverlag poetenladen veröffentlicht wurde, stoßen wir auf den Text Produit de Bretagne: „Spiel nicht mit, wo im Wind / alles stimmt u zu Recht vermutest du überall / Parkplätze am tagelangen Gestad. Dornen dahinter / u Disteln, Grund u Boden im Schweiße u dafür Apfel / u Ei.“

Der Ton ist ärger geworden, die Stimme brüchiger. Wie bereits beim zweitletzten Buch, Herzens Lust Spiele, ist auch beim posthum erschienenen Band Eingriff, sternklar ein graphisch retuschiertes Ultraschallbild von Kriers krankem Herzen auf dem Cover zu sehen. Deswegen hat sich der Blick in diesen beiden Büchern noch stärker eingetrübt, deswegen klingen diese Texte so endgültig. Die letzten Verse von Produit de Bretagne lauten dann auch: „Sing nicht. Träume nicht: die Wolken / gehen sehr, unten am Felsen liegt immer neues / Geröll. Geht mal baden das Meer. Das Spiel ist aus.“

Paul Celans bretonische Gedichte

Der Titel dieses Gedichts wirkt wie ein Heranschreiben an ein Poem des deutsch-jüdischen Autors Paul Celan. In den 50-ern und 60-ern hatte Celan jeweils einige Wochen in der Bretagne verbracht, vor allem in Trébabu, einem Dörfchen gleich vor Le Conquet, wo die Fähre nach Ouessant ablegt. Eines von Celans Gedichten aus dieser Zeit trägt den Titel Matière de Bretagne: „Ginsterlicht, gelb, die Hänge / eitern gen Himmel, der Dorn / wirbt um die Wunde, es läutet / darin, es ist Abend, das Nichts / rollt seine Meere zur Andacht, / das Blutsegel hält auf dich zu.“

Produit und Matière – in beiden Ausprägungen wird die bretonische Landschaft als ein so geschundener wie eindrücklicher Flecken Erde beschrieben. Auch deswegen wirkt diese Gegend wie ein Schlüssel zu Kriers elegischem Werk. Hier finden Text und Topographie zusammen. Die zerklüftete Landschaft ist die zerklüftete Poesie. Als Deutschlehrer in der Sekundarstufe, zuerst in Grevenmacher, später und bis zu seiner Pensionierung 2010 im Lycée de garçons in Luxemburg-Stadt, kannte ­Krier die deutschsprachige Literatur nur zu gut. Auch die Jury des Chamisso-Preises verwies auf diese Kennerschaft, lobte sie doch, dass seine „scheinbar prosanahen Texte die europäische Tradition der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts aufnehmen und deren thematisches und sprachliches Spektrum erweitern.“

In einer berühmten Rede sprach Paul Celan vor mehr als fünfzig Jahren davon, dass jedem Gedicht sein Datum eingeschrieben sei, die eigene Zeit, die es wie die Luft zu atmen habe. Wer sich durch Jean Kriers Ouessant-Gedichte liest, kommt nicht umhin, diesen Ausspruch weiterzudenken: Jedem Gedicht ist ebenso sein Raum eingeschrieben, der Ort, der es gedanklich und bildlich hervorgebracht hat.

Es wäre adäquat, ja, fast schon rechtens gewesen, die mitgebrachten Gedichtbände vor Ort zu lassen. Leider warnte uns ein Post-It am hoteleigenen Bücherschrank davor, die Glastür zu öffnen. Der Schrank wackle zu viel, die Schrauben seien zu lose. Missmutig packten wir die Bücher also wieder ein und ließen uns zum sturmumtobten Hafen fahren. An Bord der Fähre gab dann jeder sein Bestes, den meterhohen Wellen auf seine Weise zu erliegen. Die Hunde winselten und hechelten, die Menschen erbleichten und würgten. Niemand trank Kronenbourg. Ouessant entließ uns mit der Warnung, dass es jetzt auch mal reiche und wir genug rumgeschnüffelt hätten. Umso besser, dass Jean Kriers fünfbändiges Werk – und mit ihm diese rätselhafte Insel –- immer in direkter Greif- und Genussnähe ist.

Samuel Hamen
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