Leitartikel

Der alte Geist lebt weiter

d'Lëtzebuerger Land du 12.01.2018

Acht „Kompetenzzentren“, die die alte Sonderschule ablösen sollen, die aber weiterhin Spezialklassen anbieten dürfen. Kohabitationsklassen, in denen behinderte Kinder neben Klassen mit Kindern ohne Behinderungen koexistieren und bestensfalls Kunst- und Sportunterricht oder den Hof teilen. Dazu ambulante Teams, die Kinder mit besonderem Betreuungsbedarf in den Regelschulen begleiten und unterstützen.

Auch mit gutem Willen fällt es schwer, den Gesetzentwurf zur Reform der Éducation différenciée anders als ein Weiter-so, eine Bestätigung des Status quo der Sonderpäagogik zu lesen. Das findet auch der Behindertenrat, der ein äußerst kritisches Gutachten vorgelegt hat. „Etikettenschwindel“ sieht er und fordert echte Inklusion. Er beruft sich dabei auf die UN-Behindertenrechtskonvention, die Luxemburg unterschrieben hat, bei deren Umsetzung es sich, das haben die Anhörungen im Sommer vor dem UN-Behindertenausschuss in Genf gezeigt, schwertut.

Insbesondere die schulische Inklusion war ein Streitpunkt – und bleibt es, sollte der Entwurf vom Parlament so verabschiedet werden. In einem so leistungsbezogenen Schulsystem wie dem luxemburgischen sind keine schnellen und einfachen Lösungen zu erwarten, zumal das Lehrpersonal nicht geschult ist, um Kinder mit Behinderungen im Regelunterricht adäquat zu unterstützen. Nicht wenige fürchten die eigene Überforderung – und die Unterforderung der Schüler ohne Behinderungen. Doch ihre befürchtete Benachteiligung ist nur die eine Seite der Medaille, die sich, würden die Verantwortlichen sich die Mühe machen, wissenschaftlich entkräften ließe. Auf der anderen Seite steht die anhaltende Entmündigung und Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen, die zuallererst Bürger mit gleichen Rechten sind.

Dieser historische Paternalismus schreibt sich nicht zuletzt im Ansatz fort, den Erziehungsminister Claude Meisch (DP) und seine Beamten für die Reform gewählt haben: Statt die Betroffenen von Beginn an bei der Konzeptualisierung einzubeziehen, wurde das Feld Sonderpädagogen und Erziehern der Édiff überlassen, die, wen wundert’s, dem Erhalt des Systems das Wort reden. Daran ändert das im Entwurf festgehaltene Subsidiaritätprinzip nichts, denn das gilt im Grundsatz heute schon. Dass Kinder mit Behinderungen in die öffentliche Schule gehen können, war 1973 ein Durchbruch. Doch nach anfänglichen Fortschritten stagniert die realpraktizierte Inklusion in Schule und Berufsausbildung.

Die blau-rot-grüne Koalition verpasst eine Riesenchance, die alte Logik vom Trennen statt Zusammenführen hinter sich zu lassen. Dabei leiden im aktuellen System nicht nur Kinder mit Behinderungen: Der Drang nach homogenen leistungsstarken Gruppen statt individuell angepassten Lösungen, die Unterscheidung in Lehrer, die für den Lernstoff zuständig sind, und Erzieher und Fachkräfte, die sich um psycho-soziale und pädagogische Fragen kümmern, sind tief ins System eingelassen und führen dazu, dass jedes Jahr tausende Schüler nicht ausreichend gefördert werden.

Den Lehrern ist nur teilweise ein Vorwurf zu machen: Sie folgen den Vorgaben, die ihnen durch Lehrplan und Benotungsysstem gemacht werden. Umso wichtiger wäre ein eindeutiges Signal der Politik. Es zu senden setzt Mut zur mühsamen Auseinandersetzung mit falschen Ängsten und echten pädagogischen Argumenten und zum Konflikt voraus – etwas, das sich das Ministerium nicht traut, sonst hätte es die Reform gemeinsam mit Experten nicht nur der Édiff, sondern der Uni, aus dem Ausland und insbesondere mit den Betroffenen geplant. Letzteren bleibt als Trost: Inklusion ist ein völkerrechtlich verbrieftes Menschenrecht. Es gibt dazu keine Alternative. Dann muss Luxemburg eben von Genf mehrfach gerügt werden, bis es klappt.

Ines Kurschat
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