Gemeinsam wollen Unternehmer und Gewerkschaften die Tripartite und den Wirtschafts- und Sozialrat wiederbeleben, um nicht vollends von den wirtschaftspolitischen Entscheidungen ausgeschlossen zu sein

+0,5% werden Gesetz im Land

d'Lëtzebuerger Land vom 14.11.2014

Vergangenen Monat erhielt Premierminister ­Xavier Bettel eher ungewohnte Post. Die Präsidenten des Unternehmerdachverbands UEL, ­Michel Wurth, der freien Gewerkschaft OGBL, Jean-Claude Reding, der christlichen Gewerkschaft LCGB, Patrick Dury, und der Generalsekretär der Beamtengewerk­schaft CGFP, Romain Wolff, appellierten gemeinsam an die Regierung, doch bitte irgendwie den nationalen Sozaldia­log und die Tripartite wiederzubeleben.

Denn laut den Briefschreibern „kristallisieren“ sich die entscheidenden politischen Weichenstellungen in den wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Bereichen nunmehr im Europäischen Semester. Das heißt in der den Euro-Staaten vorgeschriebenen Prozedur, mit der die Regierung zu Beginn jeden Jahres ihr Stabilitätsprogramm aktualisiert und mit der Europäischen Kommission den Rahmen ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik aushandelt. Dieser Rahmen wird dann im Sommer von den Staats- und Regierungschefs gutgeheißen, bevor die Kommission den Haushaltsentwurf billigt, damit das Parlament ihn zum Jahresende stimmen darf.

Spätestens seit der Verabschiedung vor vier Monaten des Gesetzes über die Koordination und Verwaltung der öffentlichen Finanzen samt Defizitbremse, mittelfristigem Haushaltsziel und Korrekturautomatismus scheint es nun auch den im sozialpartnerschaftlichen Luxemburger Modell groß gewordenen Unternehmern und Gewerkschaften zu dämmern, dass für sie kaum eine Rolle in dieser mit europäischem Fiskalpakt, Six-pack und Two-pack festgelegten Prozedur vorgesehen ist. Diese Befürchtung hatte die Salariatskammer schon länger gehegt, doch nun pflichten ihr auch die Unternehmerverbände bei.

Ursprünglich sollte der Wirtschafts- und Sozialrat den Beitrag der Sozialpartner zur der Finanzpolitik untergeordneten Wirtschafts- und Sozialpolitik im Europäischen Semester liefern. Aber weil der Wirtschafts- und Sozialrat seit dem teilweisen Rückzug der Unternehmer politisch handlungsunfähig geworden ist, verfasst er seit vier Jahren weder sein gesetzlich vorgeschriebenes Jahresgutachten über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Land, noch befasst er sich mit der Prozedur des ­Europäischen Semesters.

Deshalb schlagen UEL, OGBL, LCGB und CGFP der Regierung nun nicht bloß vor, ihren Wirtschafts- und Sozialrat wieder mit dem Europäischen Semester zu befassen – so als wäre es die Regierung gewesen, die ihn lahm gelegt hätte. Vor allem wollen sie die Begutachtung ausweiten und teilweise sogar öffentlich machen. So soll der Wirtschafts- und Sozialrat im November oder Dezember jedes Jahres ein offizielles Treffen zum Europäischen Semester organisieren, wo Unternehmer und Gewerkschafter ihre Standpunkte darlegen können. Sie bitten aber auch den Premierminister, an diesen Veranstaltungen teilzunehmen sowie seinen Wirtschafts- und seinen Finanzminister mitzubringen.

Bemerkenswert ist vor allem, dass die Sozialpartner vorschlagen, dieses offizielle Treffen öffentlich zu machen, beispielsweise in Form einer Podiumsdiskussion, damit Regierung und Sozialpartner ihre Thesen dem Land öffentlich darlegen können. Auf diese Weise würde dem Europäischen Semester in den Medien und der Öffentlichkeit die Bedeutung eingeräumt, die ihm zustehe. Außerdem erwarten sich die Briefschreiber, dass der Wirtschafts- und Sozialrat damit wieder ein Forum des Dialogs werde, ohne dass sich die Sozialpartner dort gegenseitig blockierten.

Eine weitere öffentliche Veranstaltung dieser Art könnte jeweils vor dem Ende des Monats April stattfinden, damit die Meinung der Sozialpartner in die Aktualisierung des nationalen Stabilitätsprogramms einfließen könnte, bevor diese nach Brüssel geschickte werde. Wenn dann im Juli als Antwort die Richtlinien des Europäischen Ministerrats eingegangen sind, wollen die Sozialpartnern diese mit der Regierung durchdiskutieren, aber diesmal unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Aus diesem Grund schlagen sie eine Wiederbelebung des Koordinationsausschusses der Tripartite vor, um über die detaillierte Umsetzung der Richtlinien in den Haushaltsentwurf und das Sozialrecht zu verhandeln.

Nach dem Scheitern der Tripartite unter ihrer Vorgängerin ist der Regierung zwar gar nicht nach Verhandeln in diesen Dingen, auch weil ihre schmale parlamentarische Mehrheit wenig strapazierfähig ist. Noch vor einem Monat hatte sie jeden Sozialdialog über ihr Sparpaket abgelehnt. Doch sie ließ den Sozialpartnern inzwischen informell bedeuten, dass sie trotzdem mit einer solchen Veranstaltungsreihe einverstanden sei. Wohl weniger, weil sie bereit ist, die Kontrolle über die Haushaltsprozedur zu teilen, als weil sie ihr Interesse daran entdeckt hat, ihre Politik öffentlich als vernünftigen Mittelweg zwischen den widersprüchlichen Interessen von Unternehmern und Gewerkschaften vorführen zu dürfen.

Denn nur wenig beachtet hinterlegte Finanzminister ­Pierre Gramegna (DP) bei der Vorstellung des Entwurfs des Staatshaushalts für 2015 am 15. Oktober einen nur sechs knappe Artikel zählenden Gesetzentwurf, der das allen anderen politischen Zielen übergeordnete Herzstück der ganzen Regierungspolitik von DP, LSAP und Grünen bis zum Ende der Legislaturperiode zusammenfassen und zum Gesetz machen soll: Zusammen mit dem traditio­nellen Gesetzentwurf zum Staatshaushalt für das folgende Jahr und dem Gesetzentwurf mit dem geplanten Sparpaket – verwaltungsintern „Omnibusgesetz“, für das breite Publikum auch „Zukunftspak“ genannt – deponierte der Finanzminister das Projet de loi relatif à la programma­tion financière pluriannuelle pour la période 2014 à 2018. Es ist zum ersten Mal, dass ein solches im Gesetz über die Koordination und Verwaltung der Staatsfinanzen vom Juli dieses Jahres vorgeschriebene Gesetz verabschiedet werden soll. Es soll die Finanzpolitik von Staat, Gemeinden und Sozialversicherung für die nächsten vier Jahre festlegen.

Bisher gab es lediglich als Anhang zum Staatshaushalt einen Band mit einem mehrjährigen Investi­tionsprogramm. Nun erstreckt sich die mehrjährige Planung auch auf die Einnahmen und die laufenden Ausgaben des Staats sowie der Gemeinden und der Sozialversicherung, und ihre Salden werden im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt bis 2018 durch ein Gesetz festgelegt.

Der Gesetzentwurf gibt an, wie sich der Saldo des Gesamtstaats in den nächsten vier Jahren bei unveränderter Politik und bei einer dank der Steuererhöhungen und Sparmaßnahmen veränderter Politik entwickeln soll. Am Ende der Legislaturperiode würde der Saldo bei unveränderter Politik einen Fehlbetrag von 157,2 Millionen Euro aufweisen, nach einer Änderung der Politik, das heißt über einer Milliarde Steuererhöhungen und Einsparungen, aber einen Überschuss von 903,9 Millionen Euro.

Diese Darstellung von veränderter und unveränderter Politik liest sich merkwürdig in einem Gesetz. Denn sie entspricht eher einem politischen Programm als einem Gesetz und erinnert nicht zufällig an die Vorher/Nach-Werbung von Haarwuchsmitteln – ein Gesetz soll dagegen eine rechtlich verbindliche Norm aufstellen, einen einzigen Saldo, dessen Entstehungsgeschichte bestenfalls im Artikelkommentar Platz hat.

Das geplante Gesetz soll auch vorschreiben, dass durch die Steuererhöhungen die Mehreinnahmen des Zentralstaats von 392 Millionen nächstes Jahr auf 597,7 Millionen im Jahr 2018 steigen und die Einsparungen des Zentralstaats sich von 168,9 Millionen Euro nächstes Jahr auf 463,4 Millionen Euro im Jahr 2018 beinahe verdreifachen werden. Außerdem soll das Gesetz die Ergebnisse des Gesamtstaats auffächern in die jährlichen Überschüsse beziehungsweise Defizite des Zentralstaats, der Gemeinden und der Sozialversicherung. So soll das Gesetz unter anderem vorschreiben, dass das Defizit der Gemeinden im Jahr 2018 ein Zehntel Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt und der Überschuss der Sozialversicherung von dieses Jahr 1,4 Prozent auf 1,8 Prozent 2018 steigt.

Der Zentralstaat, der unter der direkten Verantwortung der Regierung steht, soll trotz aller Sparpakete bis zum Ende der Legislaturperiode defizitär bleiben, wenn auch 2018 mit –23,5 Millionen eher symbolisch. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, wurden alle Ministerien und Verwaltungen angehalten, ihre Haushalte bis 2018 leicht abgeändert fortzuschreiben, das heißt ihre Bedürfnisse an Menschen und Material in vier Jahren zu erfinden. Das Gesetz soll auch die Staatsverschuldung festlegen, die bis 2017 weiter steigen soll, um dann 2018 geringfügig auf 12,7 Milliarden zu fallen.

Diese Zahlen sind nicht neu. Neu ist vielmehr, dass sie nun Gesetzeskraft erhalten sollen. Dabei läuft ein Teil der Angaben auf kaum etwas anderes als unsichere Konjunkturprognosen hinaus. Andernfalls bräuchte das Parlament bis 2018 gar keinen Haushalt mehr zu verabschieden. Man darf sich auch fragen, wie die nun gesetzlich verankerten Zahlen durchgesetzt werden sollen: Wer ist beispielsweise für den Saldo der Gesamtheit aller Gemeinden verantwortlich? Wie lässt sich die Sozialversicherung zwingen, die Gesetzesbestimmungen einzuhalten? Immerhin soll sie, trotz aller Warnung vor der „versteckten Schuld“, als einzige einen Überschuss ausweisen, der auch noch bis zum Ende der Legislaturperiode weiter ansteigt.

Vor allem aber soll der Gesetzentwurf für die Jahre 2014 bis 2018 in seinem ersten Artikel ein mittelfristiges Haushaltsziel von +0,5 Prozent zum Gesetz machen – und das dürfte der eigentliche Zweck des Gesetzes sein. Das mittelfristige Haushaltsziel ist die mit der Europäischen Kommission ausgehandelte Vorgabe, dass der Staatshaushalt künftig nicht nur ausgeglichen sein soll, sondern konjunkturbereinigt ein halbes Prozent Überschuss haben muss. So soll dieses Jahr aus einem Überschuss des Gesamtstaats von 0,2 Prozent mit einer Produktionslücke von –1,9 Prozent über eine zyklische Haushaltskomponente von –0,8 Prozent ein struktureller Saldo von einem Prozent entstehen.

Bei der Verabschiedung des Gesetzes über die Koordination und Verwaltung der Staatsfinanzen hatte Finanzminister Pierre Gramegna am 9. Juli vor dem Parlament gemeint: „Für Luxemburg beträgt dieser strukturelle Saldo +0,5 Prozent. Da gibt es eine Reihe Länder, da beträgt er null, und eine Reihe Länder, da ist er sogar negativ. Was spielte da bei Luxemburg, dass er so hoch ist? Nun ja, das ist weil wir eine versteckte Schuld haben, hauptsächlich von unseren Renten, wo die Kommission findet, dass dies aber ein ernsthaftes Argument ist, dass wir in Luxemburg tatsächlich einen Überschuss haben sollen. Wir stellen das auch gar nicht in Frage.“ Auch LSAP-Fraktionssprecher Alex Bodry hatte gemeint, 0,5 Prozent Überschuss sei „ein hohes Ziel, mit das höchste Ziel in der Europäischen Union“. Einig waren sich die beiden auch, dass niemand so genau weiß, wie der strukturelle Saldo präzise berechnet wird.

Der Handelskammer, die am Montag ihr Haushaltsgutachten veröffentlichen will, reichen allerdings 0,5 Prozent struktureller Überschuss nicht. Angesichts der künftigen Kosten der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung hält sie sogar einen struktrurellen Überschuss von jährlich 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für angebracht.

Doch die Schlüsselvorgabe des selbst mit 0,5 Prozent hohen mittelfristigen strukturellen Haushaltsziels war bisher nie Gegenstand einer politischen Debatte. Sie soll es auch nicht bei den von Gewerkschaften und Unternehmern vorgeschlagenen Diskussionsrunden über das Europäische Semester werden. Denn ehe die erste dieser öffentlichen Debatten stattfindet, wird das Parlament den mittelfristigen strukturellen Saldo längst als von den europäischen Abkommen diktierten Sachzwang zum Gesetz gemacht haben.

Romain Hilgert
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