Als Aline Mayrisch-de Saint-Hubert 1909 mit dem Verein für die Interessen der Frau, den sie mitgegründet hatte, dabei war, den Weg zu den ersten staatlichen Mädchengymnasien in Luxemburg zu ebnen, gab es vom Luxemburger Wort folgenden Gegenwind: „Wer vermag es wohl zu glauben, dass der Juristenstand, der Ärztestand, der hohe Lehrerinnenstand, der Apothekerstand bei uns mit Aussicht auf Erfolg von unseren Mädchen erwählt werden könne? Und erst die Verwaltungskarrieren, die so furchtbar von Kandidaten belagert sind! Heißt es nicht unerfüllbare Hoffnungen wecken, wenn man unsere jungen Mädchen zu den langwierigen und höchst anstrengenden Gymnasialstudien verleiten will? Wird ein vernünftiger Familienvater solchen Vorspieglungen nachgeben und die Zukunft seines Kindes auf so unsicheren Sandgrund aufbauen? Kann er das bei ruhiger Überlegung?“
Die Perfidität, die sich hier abbildet, ist bezeichnend für die Kräfte und die Zeit, in der die Philanthropin und Gattin des Arbed-Direktors Emil Mayrisch sich bewegte, und die Germaine Goetzinger in Aline Mayrisch-de Saint Hubert 1874-1947. Ein Frauenleben im Spannungsfeld von Feminismus, sozialem Engagement und Literatur (Éditions Guy Binsfeld, 56 Euro) gekonnt, fast wie nebenbei, einfängt. Es entsteht ein greifbares Bild einer prägenden Figur der Moderne und ihrer Entourage, auch der Provinzialität ihres Geburtsortes, der sie als Angehörige der Oberschicht mit Reisen und als Teil eines literarisch-intellektuellen Milieus zu entfliehen imstande war. Dabei geht die Recherche Germaine Goetzingers, Historikerin, Literaturwissenschaftlerin und Gründerin des Centre national de la littérature, über die Zeit in Colpach, die vielen bekannt ist, hinaus. Hierfür nutzt die Biografin bisher unveröffentlichtes Quellenmaterial, etwa den Briefwechsel zwischen Aline Mayrisch und ihrer Tochter Andrée Mayrisch, oder mit der Schriftstellerin France Pastorelli. Ein solch bewegtes Leben zum ersten Mal zu (be)schreiben sei ein „gewagtes Unterfangen“, immerhin solle es „sachlich und historisch abgesichert sein“, heißt es im Vorwort. Tatsächlich lässt die Autorin die Kindheit und Jugend Aline de Saint-Huberts, die Heirat mit Emil Mayrisch, den Umzug nach Düdelingen und Colpach, die diversen Reisen und Projekte, Interessen wie die Kunst, die Literatur, die Spiritualität und die Schriften Meister Eckharts, Schicksalsschläge wie der Verlust des ersten Neugeborenen, später der Tod des Ehemannes, eine Fehlgeburt und die Emanzipierung ihrer Tochter Revue passieren – das ganze Leben dazu eingebettet in die sowohl politisch als auch sozial und kulturell stürmischen Dekaden des Ersten und Zweiten Weltkriegs.
Bei der Lektüre wird klar, wie groß das gesellschaftliche Vermächtnis der Aline Mayrisch für Luxemburg und inbesondere für die Belange der hier weilenden Frauen ist. Neben dem Einsatz für Bildungsgerechtigkeit trug sie maßgeblich zur Entstehung der Maternité bei und setzte sich ihrer Zeit weit voraus für die Einführung eines Mutterschutzes in der Schwangerschaft und nach der Geburt ein. Diese Einforderungen stießen, wie das anfängliche Zitat beweist, auf Gegenkräfte: „Das soziale Engagement kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in dieser Welt wenig Platz gab für eine Frau mit dem unbändigen Wunsch, sich weiterzubilden und an den intellektuellen Strömungen der Zeit teilzuhaben.“ Auch aus diesem Kontext qualifiziert Goetzinger vieles dessen, was Aline Mayrisch tat, als „grenzüberschreitend“. Sie gab sich nicht damit zufrieden, dem Leben einer Industriellengattin zu frönen – wobei die finanzielle Unterstützung ihres Mannes ihr zweifelsfrei erlaubte, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es wollte.
Weiter kommt hier die Klassenthematik zum Tragen, die sich in Aline Mayrisch auf interessante, weil komplexe und widersprüchliche Weise personifiziert. Ihr soziales Engagement für die Armen führte dazu, dass Mayrisch und ihre Mitstreiterinnen in die ärmeren Viertel Pfaffenthal, Grund und Clausen gingen, um das Proletariat zu „studieren“ und ihre Lebensqualität auf diese Weise zu verbessern. Später war sie Präsidentin des Roten Kreuzes. Auf der einen Seite setzte sie sich unermüdlich für die Mädchenbildung ein, auf der anderen durfte ihre eigene Tochter keine öffentliche Schule besuchen, hatte in ihrer Kindheit deshalb kaum Kontakt zu Gleichaltrigen und lebte abgeschottet und von ihrer Gouvernante betreut im Düdelinger Schloss. Der Konflikt zur eigenen bürgerlichen Herkunft existierte in ihrer Tochter weiter, die sich aber eine Generation später in ihrem Prozess schon weiterentwickelt hatte, wie die besonders interessanten Tagebucheinträge einer Reise nach Persien Ende der 20-er Jahre beweisen. Konfrontiert mit den ärmeren Einheimischen schreibt die Mutter über ihre Tochter: „Leur vie, leurs joies lui sont sensibles. Ni la misère, ni la saleté ne la dégoutent : elle mangerait, travaillerait avec eux.“ An den Reisebeschreibungen durch Persien zeigt sich Aline Mayrisch ihrerseits auch als Frau, die trotz ihrer – übrigens völlig autodidaktischen – Bildung den orientalistischen Vorbehalten ihrer Zeit verhaftet war, die sich aber zeitlebens stets der Entfaltung ihrer Gedanken verschrieben hatte.
Mit Feinheit kommentiert Goetzinger auch die Beziehungen, die Aline Mayrisch prägten. Einerseits die Liebesbeziehung zu Maria van Rysselberghe (Ehefrau des belgischen Neo-Impressionisten Théo van Rysselberghe), die jener zu Emil Mayrisch in Intensität wohl überlegen war; die ambivalente Bindung zur Tochter Andrée „Schnoucky“ Mayrisch (die später in Frankreich zur sozialistischen Parlamentarierin avancierte, eine von drei Frauen der Regierung der Vierten Republik) und die intellektuellen Freundschaften, die sie etwa mit André Gide unterhielt. Die Biografin wägt ab, ist in ihren Urteilen vorsichtig, warnt im Vorwort vor Selbstinszenierung und Narzissmus in den Korrespondenzen, verwendet oft Begriffe wie „gewissermaßen“, von Zeit zu Zeit „vielleicht“, vor allem wenn sie Beziehungen, Charaktereigenschaften oder emotionale Befindlichkeiten bewertet. Diese Diskretion verleiht ihrem Werk eine stille Menschenkenntnis und die nötige psychologische Tiefe. Etwa attestiert sie ihrem Subjekt eine „negative Selbstwahrnehmung“ und einen Hang zur Unterwerfung, sie nehme in Korrespondenzen mit Gide eine „Schülerinnenrolle“ an und lasse sich belehren. Gleichzeitig entschuldigte Aline Mayrisch sich im Vorfeld bei geladenen Intellektuellen für die Ungebildetheit des hiesigen Publikums.
Aus dem Werk ist besonders das Kapitel zur bürgerlichen Frauenbewegung hervorzuheben, das inspiriert und gleichzeitig dem Publikum einen Einblick in die Gemütszustände der Bevölkerung zu Beginn des letzten Jahrhunderts gewährt. Auch die Beschreibungen von Aline Mayrischs Arbeitszimmer und Bibliotheken – deren Lektüre einen unweigerlich an Virgina Woolfs A room of one’s own denken lässt, das 1929 erschien und Mayrisch vielleicht gelesen hat – bleiben im Gedächtnis. In Colpach und Düdelingen stapelten sich in ihrem Arbeitszimmer jedenfalls Bücher, umringt von Totenmasken von Goethe und Nietzsche, die dem Ort einen „fast sakralen Charakter“ gaben. Er stellte einen Rückzugsort und kreativen Schaffensort dar, auch für den Meinungs- und Gedankenaustausch mit Freunden.
Im Jahr 2022, seit Aline Mayrischs Tod sind 75 Jahre vergangen, kann von einer gewissen Renaissance von Biografien über historische Frauenfiguren gesprochen werden, einem neu entfachten Interesse, das sich sowohl in akademischer Recherche als auch in der Kunst zeigt. In einem Bemühen um Sichtbarkeit widmet man sich Frauen wie Ayn Rand, Marie Curie hin zu Käthe Kollwitz und Leonora Carrington nun vermehrt. Das ist begrüßenswert, bezeichnend bleibt, wer das am meisten tut: Frauen. Auch die Autorin Germaine Goetzinger vereint in ihrer Person einiges an Fortschritt, was etwa die Professionalisierung des Literaturbetriebs angeht und die Recherche zur Frauengeschichte Luxemburgs. Engagierte Frauen, die engagierte Frauen porträtieren.