Luxemburgensia

Schüttel deine Silben

d'Lëtzebuerger Land du 02.09.2022

Beim Lesen des neuen Gedichtbands von Nico Helminger Saumes Kinoplakat gerät man in Versuchung, das Wort „Schüttelreim“ mit einer neuen, wortwörtlichen Definition zu versehen, für die diese Gedichte die perfekte Grundlage legen: Es ist, als würden sich alle Verse und Strophen der jeweiligen Gedichte aus den gleichen Worten, Lauten und Silben zusammensetzen – nur, dass diese eben durcheinandergeschüttelt wurden. Wild. Immer wieder. Wie Güsse aus dem Würfelbecher, wobei beim Zusammensetzen der durcheinandergeschüttelten Silben und Sinneinheiten penibel auf Regelmäßigkeit und wiederkehrende Formen in den rekombinierten Worten und Satzeinheiten gesetzt wurde, so dass daraus eindeutig Gedichte werden – so eindeutig wie Man Rays Poem: Das Schriftbild ist äußerst regelmäßig, die Verse gleichlang. Auf den ersten Blick wird klar, dass hier die Form gewahrt wurde. Und tatsächlich handelt es sich um relativ regelmäßige Sonette.

Dabei tritt andererseits der Inhalt hinter die Satzmelodie zurück. Die Gedichte haben zwar Strophen, Verse und eine Form, die sie augenscheinlich als Gedichte erkennbar machen. Doch im Fokus steht nicht ihr Inhalt, die heraufbeschworenen Bilder, sondern der Effekt der Sprache in dieser Form: die Wiederholung der Silben und Wortbestandteile. Konzentriert man sich auf die gelesenen Worte, ist es ein ständiges Abbrechen und Umschlagen; es gibt zahlreiche unvollständige Sätze und Bilder. Liest man hingegen laut, entsteht etwas Neues, Beeindruckendes; denn klanglich wirkt das Ergebnis dieser Reim-Schüttelei nicht wie ein Zungenbrecher. Vielmehr entsteht beim Laut-Lesen das eindrucksvolle Gefühl, es handele sich um eine neue, unbekannte Sprache mit einem expressiven Klang, einem ihr eigenen, einheitlichen Rhythmus und einer eigenen Melodie …

Saumes Kinoplakat ist das neuste Werk auf Deutsch des luxemburgischen Autors Nico Helminger, der Theaterstücke, Prosa und Gedichte verfasst hat und bereits mit zahlreichen luxemburgischen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, darunter zweimal der Prix Servais und 2008 der Prix Batty Weber für sein Lebenswerk.

Vor allem überrascht der Gedichtband durch ein formelles Experiment, einen Balanceakt zwischen Form und Inhalt: Saumes Kinoplakat wurde laut Verlag unter Zuhilfenahme einer Software verfasst, die bei der Zusammenstellung der Wortgruppen geholfen hat. Wie genau dies vonstattenging, wie viel Eigenanteil des Programms und wie viel Orchestrierung des Autors schlussendlich zu den finalen Gedichte geführt hat, wird nicht transparent gemacht. Tatsächlich wundert man sich vor diesem Hintergrund, ob Nico Helminger nicht etwa Scrabble-Wortlisten durchgearbeitet hat – oder ob sich hier erneut aufzeigt, wie schwer es Softwares noch immer fällt, den Inhalt und die semantischen Zusammenhänge des Gesagten zu erkennen und zu reproduzieren. Wie auch immer sich die Verhältnisse gestalten, das Ergebnis sind abstrakte Gedichte im Sinne Eugène Ionescos und seines Theaterstücks La Cantatrice chauve. Sätze, die mit Subjekt und Verb beginnen, werden nach dem Versumbruch nicht weitergeführt, manchmal brechen sie schon innerhalb des Verses ab. Sind die Bilder intentioniert? Sind sie zufällige Ergebnisse aus der Rekombination der durchschüttelten Worte, die den Ton in diesem Gedicht angeben? Seien es humorvolle Titel wie „Wie Schraubenzieher die Welt sehen“ oder sprechende Fragmente wie „Kleintiere wurmen rituell“: Alle evozierten Bilder werden restlos abgebrochen, beendet, radikal und abrupt, ohne wiederaufgegriffen zu werden. An anderen Stellen kommt Rhythmus auf, durch gleichbleibende Satzanfänge zum Beispiel. Doch auch hier entsteht, abgesehen von der vollendeten Form, vor allem ein voller Klang. Ein Saum, wie der Titel vielleicht verheißt: Aus einem langen Faden gesponnen, ohne abzubrechen, symmetrisch und regelmäßig. Die einzelnen Schlaufen, Knötchen und Ornamente sind dem Ziel des regelmäßigen, formell perfekten Endproduktes unterworfen. Woraus, auf Kosten des Inhalts der Worte, die zu Klängen werden, etwas Neues entsteht. Etwa, um es mit einem anderen Künstler des Dadaismus zu illustrieren, Gedichte wie Hugo Balls Karawane – nur eben aus Fragmenten und falschen Pisten, die Sinn verheißen; auch wenn sie bei Nico Helminger ebenfalls Gestalten in fremden Zungen heraufbeschwören ...

Nico Helminger: Saumes Kinoplakat. Sonette. Editions Guy Binsfeld.
160 S. 18.-€

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