Das Kommunalwahlsystem bleibt sehr uneinheitlich: Eine Wählerstimme in einer Ösling-Landgemeinde hat eine andere Bedeutung als in der Hauptstadt oder in einer Industriestadt im Minette

Land- und Stadtdemokratie

Gemeindewahlen Mompach
Foto: Patrick Galbats
d'Lëtzebuerger Land vom 24.03.2017

Wenn am 8. Oktober die Wahlberechtigten in den 105 Gemeinden aufgerufen sind, neue Gemeinderäte zu wählen, tun sie das nach sehr unterschiedlichen Regeln. Eine Wählerstimme in einer Landgemeinde im Norden hat ein anderes Gewicht als eine Wählerstimme in einer Stadtgemeinde des Südens. Der politische Einfluss einer Wählerstimme kann, je nach Bevölkerungszahl, Wahlmodus und Ausnahmebestimmungen, sogar zwischen zwei fast gleichen Nachbargemeinden abweichen. Und trotz Bevölkerungswachstum, Gemeindefusionen und Reformen des Wahlgesetzes gleichen sich die Wahlsysteme in den Gemeinden nur äußerst langsam an.

So wird in knapp mehr als der Hälfte der Gemeinden noch nach dem aus dem frühen 19. Jahrhundert stammenden Mehrheitswahlrecht, dem Majorzsystem, abgestimmt. Dort trägt der Wahlzettel eine einzige Liste mit den Namen aller Kandidaten in alphabetischer Reihenfolge. Gemeinderäte werden dann die sieben oder neun Bestgewählten dieser Liste.

Das Majorzsystem gilt dieses Jahr in 57 Gemeinden mit weniger als 3 000 Einwohnern. Durch die Gemeindefusionen, die staatlich bezuschusste Zusammenlegung kleinerer Majorzgemeinden zu Fusionsgemeinden mit mehr als 3 000 Einwohnern, stirbt das Majorzsystem keineswegs aus. Die Zahl der Majorzgemeinden hat in den vergangenen Jahren nur leicht abgenommen, so wie auch die Zahl der Gemeinden, von 118 vor 20 Jahren auf heute 105, weit langsamer abnahm als geplant.

Durch das Bevölkerungswachstum der vergangenen sechs Jahre wird in zwei Gemeinden, Bissen und Ulflingen, zum ersten Mal nach dem Verhältniswahlrecht abgestimmt, 2011 zählten sie noch weniger als 3 000 Einwohner und wählten nach dem Mehrheitssystem. In Bissen machten bloß 13 Einwohner den Unterschied aus – auch wenn es mehr waren als 2005 in Kopstal, das am Stichtag haargenau 3 000 Einwohner hatte.

Außerdem wird im Oktober in den bisherigen Majorzgemeinden Consthum und Hoscheid nach dem Proporzsystem gewählt, weil sie nunmehr zur Proporzgemeinde Park Hosingen gehören. Ähnliches gilt für die ehemalige Majorzgemeinde Eschweiler, die nun zur Proporzgemeinde Wiltz gehört, und für die Majorzgemeinde Neunhausen, die nun zur Proporzgemeinde Esch-Sauer gehört.

Das Mehrheitswahlrecht ist ein Relikt aus dem Notabelnregime des 19. Jahrhunderts. Laut dem in der Restauration nach der Belgischen Revolution entstandenen Gemeindegesetz von 1843 war nur wahlberechtigt, wer „[d]em Staate zehn Gulden directe Steuern, die Patentsteuer mit einbegriffen“ zahlte, den Wahlzensus, der gewährleistete, dass nur die reichen Männer wahlberechtigt waren.

Zuerst wurden „die Stimmzettel in den Wohnhäusern abgenommen“. Nach der liberalen Revolution von 1848 sah das im gleichen Jahr erlassene Gesetz über die Gemeindewahlen vor, dass größere Gemeinden in Wahlsektionen unterteilt und die Wähler zur Stimmabgabe zusammengerufen wurden, „[d]ie vier höchstbesteuerten Wähler, welche lesen und schreiben können, versehen die Geschäfte von Scrutatoren“.

Parteien waren im bis heute fortbestehenden Majorzsystem nicht vorgesehen, weil damals nur eine Partei wahlberechtigt war, diejenige der Besitzenden. Die gesamte Wahlprozedur drückte die weitgehend unbegründete Sorge aus, dass Wahlen etwas an den Besitzverhältnissen ändern könnten. Statt über politische Standpunkte wurde über Personen abgestimmt, Dorfpatriarchen und Kleinstadtnotabeln, Großgrundbesitzer und Fabrikherren, die zuerst ihre privaten Geschäftsinteressen und nachrangig diejenigen Ihresgleichen
verteidigten, deren Stimme sie oft mit Freibier und Gastmalen kauften.

Damit nicht irrtümlicherweise ein politischer Abweichler gewählt wurde, mussten die Kandidaten in einem ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit, mehr als der Hälfte der Stimmen, gewählt werden. Wenn dies nicht bei allen Kandidaten klappte, wurde unter denen im Wahllokal wartenden Wahlberechtigten binnen einer halben oder später bis zu zwei Stunden eine Stichwahl, der „Ballotage“, zwischen den Bestgewählten vorgenommen.

Das nach dem reaktionären Putsch von 1857 erlassene Wahlgesetz von 1861 definierte Wahlsektionen als „Vereinigung von wenigstens hundert Seelen mit besonderer Gemarkung“ oder „von Einwohnern, auch geringerer Anzahl, falls dieselbe als moralische Person ein besonderes Gemeindevermögen von wenigstens 100 Franken jährlicher Einkünfte besitzt“.

Als nach dem Ersten Weltkrieg das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde, wurde das Mehrheitswahlrecht bei den Kammerwahlen abgeschafft. Denn die Zentralsektion des Parlaments befand 1919: „Le système majoritaire qui exclut la majorité moins un des suffrages, est incompatible avec la vraie démocratie et contraire à l’égalité des citoyens qui doivent tous être représentés.“ Für die große Mehrheit der Gemeinden wurde aber das angeblich mit einer wahren Demokratie unvereinbare Wahlsystem bis heute beibehalten.

Das Wahlgesetz von 1924 schrieb vor: „Die Gemeindewahlen finden nach dem System der absoluten Mehrheit in allen Gemeinden des Landes statt, vorbehaltlich der im nachstehenden Art. 193 vorgesehenen Ausnahmen.“ Das Verhältniswahlrecht wurde demnach als Ausnahme angesehen. Es wurde vorgesehen für Gemeinden mit wenigstens einer Sektion von mehr als 3 000 Einwohnern, wo „die Gemeindewahlen für alle Sektionen mittelst Listenskrutinium mit verhältnismäßiger Vertretung“ stattfinden sollten. Weil nach Abschaffung des Zensuswahlrechts die Zahl der Wahlberechtigten zu groß für die umgehende Veranstaltung eines zweiten Wahlgangs geworden war, wurde die Stichwahl auf den Sonntag nach dem ersten Wahlgang verlegt.

In Gemeinden mit 3 000 Einwohnern und mehr wird dagegen seit bald einem Jahrhundert nach dem Verhältniswahlrecht abgestimmt, das politische Minderheiten nicht ausschließt, wie das Majorzsystem, sondern ihnen Sitz und Stimme gewährt. Ein Wahlzettel führt mehrere, meist von politischen Parteien aufgestellten Kandidatenlisten auf und erlaubt, je nach Interessen und Überzeugungen, Listen statt einzelne Kandidaten zu wählen. Die von den Listen erzielten Stimmen entscheiden mit über die Wahl der Kandidaten.

An der Unterscheidung von Majorz- und Proporzgemeinden änderte auch 80 Jahre später die große Reform des Wahlgesetzes von CSV-Innenminister Michel Wolter nichts. Die Abschaffung des Majorzsystems stand nicht zur Debatte. Das System wurde lediglich vereinfacht, indem die Stichwahlen am zweiten Wahlsonntag abgeschafft wurden: Gewählt ist seither, wer schon im ersten Anlauf nur eine relative Mehrheit erreicht.

Abgeschafft wurden 2003 auch die Wahlsektio­nen und damit ein Mittel zur Rivalität zwischen Kirchturmpolitikern in den verschiedenen Dörfern einer Gemeinde. Der Erhalt des Mehrheitswahlrechts wird bis heute damit gerechtfertigt, dass verhindert werden soll, den „Parteienstreit“ in kleine Gemeinden zu tragen, das heißt die Solidarisierung von Kandidaten gleicher Gesinnung oder Interessen. So als sei im Geist der Zentralsektion von 1919 parlamentarische Demokratie nur etwas für die Großen, während kleine Dorfgemeinden, in denen es heute oft an Kandidaten fehlt, in einer Art kindlicher politischer Unschuld leben sollen. Im Gegensatz zu den Kammerwahlen gibt es für Gemeindewahlen keine Wahlkampfkostenerstattung und keine Geschlechterquoten – auch weil sie in den Majorzgemeinden nicht durchzuführen wären.

Doch selbst in den Proporzgemeinden wurde nicht vollständig Abschied vom Majorzsystem genommen. Denn als Überbleibsel des auf die Wahl von Personen ausgerichteten Mehrheitswahlrechts war als Kompromiss mit den Erben der liberalen Notabeln des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit des Panaschierens eingeführt worden, der Wahl von Einzelkandidaten unterschiedlicher Listen auf einem Wahlzettel. Ein Überbleibsel, das bis heute alle der mehr als 50 Änderungen des Wahlgesetzes seit 1924 überlebt hat.

Unabhängig vom Wahlmodus bestimmt die Einwohnerzahl auch die Zahl der zu wählenden Gemeinderäte, die von sieben bis 27 reicht. Es sind heute gerade noch drei Gemeinden mit weniger als 1 000 Einwohnern und damit sieben Räten übriggeblieben, die bisher dem Druck zur Fusion mit größeren Nachbarn entgingen: Saeul, dessen Fusion mit Tüntingen und Boewingen scheiterte, das fusionsresistente Wahl und Simmern, das erst nach den Gemeindewahlen, am 1. Januar 2018, mit Hobscheid fusioniert.

Ab 1 000 Einwohner werden neun Räte gewählt, ab 3 000 elf Räte und ab 6 000 dreizehn Räte. Käerjeng, Schifflingen, Bettemburg und Hesperingen haben mit über 10 000 Einwohnern 15 Räte, Sassenheim und Petingen mit über 15 000 Einwohnern siebzehn Räte und Düdelingen, Differdingen und Esch-Alzette mit über 20 000 Einwohnern 19 Räte. Für die Stadt Luxemburg mit 114 107 Einwohnern sieht eine Sonderregelung 27 Räte vor.

Durch dieses Stufensystem haben die Wählerstimmen je nach Gemeinde ein sehr unterschiedliches Gewicht: In Saeul wiegt eine Stimme 40 Mal mehr als in Luxemburg, da in der Majorzgemeinde auf 107 Wähler ein Gemeinderatsmitglied kommt, in der Proporzgemeinde Luxemburg vertritt ein Gemeinderatsmitglied 4 226 Einwohner. Doch auch zwischen den großen Proporzgemeinden kann der Unterschied fast das Doppelte ausmachen: In Düdelingen kommt auf 1 076 Wähler ein Gemeinderatsmitglied, in Esch-Alzette auf 1 808. Das Gewicht der Wählerstimmen nimmt aber nicht jedes Mal ab, wenn eine Gemeinde größer wird: In der Majorzgemeinde Lintgen kommen beispielsweise auf 322 Wähler ein Gemeinderat, in der größeren Proporzgemeinde Bissen kommen 274 Wähler auf ein Gemeinderatsmitglied.

Noch komplizierter werden die Verhältnisse durch die Gemeindefusionen der vergangenen Jahre. Die Fusionen führten zu Übergangsregelungen, um möglichst vielen Gemeinderäten ihre Mandate zu erhalten und sie so zu ermutigen, für die Fusion zu stimmen. So räumt das Gesetz vom 24. Mai 2011 der Gemeinde Park Hosingen 15 Gemeinderäte ein, obwohl Consthum, Hoscheid und Hosingen zusammen nur 3 246 Einwohner zählen, die Gemeinde also elf Räte zählen müsste. Im Oktober sollen nunmehr 13 Räte gewählt werden und erst bei den Gemeindewahlen von 2023 soll die Mandatszahl von der Einwohnerzahl abhängen. Auch die aus Ermsdorf und Medernach zusammengesetzte Ernztal-Gemeinde soll ihrer Einwohnerzahl gemäß neun Räte haben, sie wählt aber bis 2023 elf Räte. Damit ist sie eine der Gemeinden, die auch nach einer Fusion Majorzgemeinden bleiben. Ähnlich wie Kiischpelt, die nur 1 151 Seelen große, 2005 aus der Fusion von Kautenbach und Wilwerwiltz entstandene Majorzgemeinde. Die geplante Fusion von Rosport und Mompach soll 13 Räte bis 2023 zählen und danach an die Einwohnerzahl angepasst werden, die elf Räte hergäbe.

Romain Hilgert
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