Die Regierung berät über den Werteunterricht. Doch nicht nur gibt es Zweifel daran, ob dieser wirklich neutral sein wird. Es existiert dazu längst ein Konzept im Schulministerium

Double emploi

d'Lëtzebuerger Land vom 07.11.2014

Da seien „Verschwörungstheorien“, „Gerüchte“, „veraltete Informationen“ unterwegs, bekommt eine Journalistin von regierungsnahen Mitarbeitern und Parteipolitikern gesteckt, wenn sie versucht, sich ein umfassendes Bild von den Vorarbeiten im Erziehungsministerium zum Einheits-(Werte)unterricht zu machen. Ein schwieriges Unterfangen, denn die Beratungen finden hinter verschlossenen Türen statt – und sorgen doch für Unmut.

Die blau-rot-grüne Regierung hat ihren Wählern versprochen, einen „objektiven“ Werteunterricht einzuführen. So steht es im Regierungsabkommen: „L’enseignement religieux et l’éducation respectivement la formation morale actuellement en vigueur seront remplacés par une éducation aux valeurs aussi bien dans l’école fondamentale que dans les lycées. Les objectifs de cette éducation sont notamment de présenter de manière objective les grands courants religieux et philosophiques et d’éduquer les élèves aux valeurs qui fondent notre vivre ensemble.“ Dieser Unterricht solle „en étroite concerntation avec toutes les parties concernées“ entwickelt werden.

Doch was sich im Moment Land-Informationen nach bei den Beratungen abspielt, ist dazu geeignet, Zweifel daran aufkommen zu lassen, ob wirklich ein objektiver, will heißen, ideologiefreier Ethikunterricht für alle Schüler kommen wird – oder ob nicht doch ein politischer Kompromiss gefunden werden soll, der mit einer echten Trennung von Kirche und Staat nicht viel zu tun hat.

Die Vorgehensweise des verantwortlichen Unterrichtsministeriums klingt zunächst nachvollziehbar: Seit Anfang des Jahres hat Minister Claude Meisch (DP) eine neue Koordination in seinem Ministerium damit beauftragt, eine Hand voll Religions- und Philosophielehrern in zwei Arbeitsgruppen jeweils zu Gesprächen einzuladen. Sie sollten, so der Auftrag, für den die Lehrer stundenweise vom Unterricht befreit wurden, Unterrichtsmodelle aus anderen Ländern – der Zentralschweiz, Deutschland, Kanada – analysieren und auf ihre Tauglichkeit für Luxemburg prüfen. Der Neustart, so bestätigte das Ministerium auf Land-Nachfrage, sollte helfen, über viele Jahre „verhärtete Fronten aufzubrechen“.

Doch schon die Wahl der Koordination war kaum geeignet, Vertrauen zu schaffen, ist doch einer der beiden Koordinatoren, Jean-Marie Kieffer, Musik- und Religionslehrer. Das Ministerium preist ihn als „exzellenten Mitarbeiter“, der um „Vermittlung“ und „Sachlichkeit“ bemüht sei. Allein die Philosophielehrer von der Vereinigung Alpe scheinen davon nicht überzeugt. Ein Leserbrief der pensionierten Philosophielehrerin Rita Jeanty benannte den Konflikt und machte publik, was die Generalkoordination des Ministeriums lange weiß: dass sie im Auftrag des Ministeriums – und vor ihr andere – Jahre vor Antritt der DP-LSAP-Déi Gréng-Regierung bereits zahlreiche Unterrichtsmodelle analysiert hatte. Genauer gesagt, war es Meischs Parteikollegin, die damalige Unterrichtsministerin Anne Brasseur, die Jeanty 2001 den Auftrag gab, sich nach Modellen für einen Ethikkurs umzusehen. Ging es zunächst darum, den Moralunterricht auf sichere didaktische Füße zu stellen, wurde daraus bald mehr: ein einheitlicher Ethikunterricht, auf dem in Deutschland verbreiteten Konzept der „praktischen Philosophie“ aufbauend, könnte eine Alternative zur historischen Aufspaltung in katholischen Religionsunterricht einerseits und säkularen Moralunterricht andrerseits sein, so Brasseurs Idee, die sie in einem Interview mit Radio Ara skizzierte.

Diese Hoffnung hegte auch Brasseurs Nachfolgerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP), die ihrerseits die Arbeiten weiterlaufen ließ. Nicht nur das: Sie beauftragte besagte Lehrerin damit, gemeinsam mit Experten einen Lehrplan sowie Materialien für einen Ethikkurs für Grund- und Sekundarschule auszuarbeiten. Freilich konnte das Projekt so nicht genannt werden – die Sozialisten waren der Juniorpartner der CSV, die einen Werteunterricht damals ablehnte, zudem war der Koalitionsfrieden spätestens nach den Diskussionen zur Euthanasie 2008 sehr zerbrechlich.

Trotzdem wurde das Projekt intern vorangetrieben, wurden teure Arbeitsaufträge an ausländische Experten gegeben, um das Feld für einen solchen Unterricht, wahlweise Éducation au vivre ensemble oder Éducation à la citoyennété et aux droits de l’homme genannt, vorzubereiten. Die Beratungen damals gingen allesamt von der Grundsatzfrage aus, dass es in der öffentlichen Schule einen für alle Schüler gemeinsamen Werteunterricht geben sollte. Sogar ein Rahmenplan sowie ein Aktionsplan wurden erstellt, dazu ein Strategiepapier, wie eine solche Umstellung praktisch bewältigt werden könnte – Sensibilisierung von Eltern und Umschulung von Katechetinnen ohne akademische Ausbildung inklusive. Um daraufhin wieder in einer Ministeriums-Schublade zu verschwinden. In zwei aufeinanderfolgenden Legislaturperioden fand die sozialistische Ministerin nicht die Kraft, nicht die Unterstützung und vielleicht auch nicht den Mut, ihre Pläne umzusetzen – die zuständige Mitarbeiterin, die sich immer wieder vertröstet sah, warf daraufhin 2009 frustriert das Handtuch.

Nun also hat die aktuelle Regierung einen neuen Anlauf gestartet, erneut Arbeitsgruppen (zum Teil mit bekannten Gesichtern) gebildet, um Modelle zu studieren. Das taten diese auch bereitwillig, bis vor kurzem. Da sollten die Philosophielehrer den Minsiteriumsvertretern ihre Ergebnisse präsentieren. Von der Sitzung gibt es widerstreitende Versionen: Die Philosophielehrer sagen, sie hätten sich „den Mund fusselig geredet“, um dann festzustellen, dass ihre Bedenken gegen das so genannte Québecer Modell Éthique et culture religieuse nicht zurückbehalten wurden. Aus dem Ministerium heißt es dagegen, die Lehrer hätten von vornherein zwei Modelle ignoriert und sich bei ihrer Analyse auf ein Modell, das aus Québec, beschränkt.

Bei besagtem Modell, das dem Land vorliegt, handelt es sich um einen Lehrplan aus Kanada, der schon 2013/2014 von der Alpe geprüft und verworfen wurde, weil er, wie Thierry Holtzem, Philosophielehrer und Alpe-Präsident, erklärt, „im Grunde ein verdeckter Religionsunterricht ist“. Selbst ein hochrangiger Mitarbeiter aus den Ministerium räumte gegenüber dem Land ein, im Grunde „sind das zwei Kurse in einem: ein Religionskurs und ein Ethikunterricht“. Trotzdem fürchten die Philosophielehrer nun, dieser Lehrplan könnte wichtige Grundlage für den geplanten Einheitskurs werden. Auf Land-Nachfrage heißt es im Ministerium, das Ganze sei „ein Missverständnis“ gewesen. Eigentlich ist geplant, dass in einem nächsten Schritt das Ministerium die Beobachtungen beider Arbeitsgruppen zusammenführt und einen Rahmenplan erstellt. Er soll im ersten Trimester des neuen Jahres fertig sein, dann sollen beide Arbeitsgruppen zusammenkommen und diesen, gemeinsam, mit Inhalt füllen. Die Einführung des Kurses selbst ist für 2016/2017 geplant.

Derweil steht die andere Frage weiterhin im Raum: Warum lässt der Minister eine Übung wiederholen, die bereits absolviert wurde? Warum werden erneut Lehrer freigestellt, zumal die Regierung angetreten ist, um Ressourcen zu sparen? Die Misstrauischen sagen: um Zeit zu gewinnen. Es sei nie darum gegangen, wirklich miteinander ins Gespräch zu kommen. Ihnen stößt besonders auf, dass die Religionslehrer vor den Beratungen im Ministerium beim Bistum vorgesprochen hatten. Dessen Haltung ist bekannt: Erzbischof Jean-Claude Hollerich ist nur „bereit, auf den Religionsunterricht zu verzichten, wenn man einen Religionen-Unterricht einführt“. Dieser müsse vom Rat der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften gestaltet werden, und zwar gemäß dem jeweiligen Bevölkerungsanteil“, sagte Hollerich der Katholischen Nachrichtenagentur KNA.

Vom Land kontaktiert, macht der Präsident der Programmkommission der Religionslehrer, Jos Zanter, aus den Gesprächen keinen Hehl, pocht aber darauf, dass Religionslehrer „noch immer freie Menschen“ seien und „zu 99 Prozent Laien und keine Pastoren“. Man habe dem Bistum die Analysen vorgelegt und „keine Steine in den Weg gelegt bekommen“. Es sei aber „effektiv so, dass wir die judeo-christlichen Wurzeln verankert haben wollen“, um Schüler „besser auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorzubereiten“, so Jos Zanter.Auch das Ministerium weiß um die Verbindungen, wirbt aber um Verständnis. Bloß: Wie sollen sich alle Beteiligten vertrauensvoll begegnen, wenn die einen im engen Kontakt mit dem Bistum steht und es vielleicht Vorgaben gibt, die keiner kennt?

Anders als manche es jetzt darstellen, geht es bei dem Konflikt also weder um „Verschwörungs-theorien“, noch um eine einzelne frustrierte Ex-Mitarbeiterin. Schon ihre Vorgänger, 2002 mit einer ähnlichen Aufgabe beauftragt, hatten vier Jahre später, 2006, entnervt die Flinten ins Korn geworfen. In einem Brief an die damalige Ministerin sollen sie die mangelnde Kohärenz der Politik beklagt haben. Auch sie fühlten sich zu wenig unterstützt.

Die Frage ist daher berechtigt: Wenn das Unterrichtsministerium seit Jahren Lehrer in „praktischer Philosophie“ ausbildet, wenn Bücher und Schulmaterialen existieren, die das Ministerium selbst für nicht wenig Geld gedruckt hat und die im ganzen Land im Einsatz sind, wenn sogar Religionslehrer selbst Weiterbildungskurse in der Praktischen Philosophie besucht haben, warum wird das Produkt dann nicht übernommen? Die Anfänge dieser Weiterbildungskurse reichen bis 2000 zurück und die Kurse werden bis heute regelmäßig vom Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et techniques (Script) angeboten, der die teilweise aus dem Ausland kommenden Experten bezahlt. Auch eine Evaluation durch die Uni Luxemburg war vorgesehen, zu der kam es aber offenbar nicht mehr. Selbst die Lehrergewerkschaften unterstützen die Kurse.

Die katholische Kirche versucht derweil, mit dem Schreckensbild eines Staats, der Schülern bestimmte Werte geradezu vorschreibt, gegen ein Ethikfach Stimmung zu machen. Nur: Entweder sie haben die didaktischen Materialien nie gesehen oder sie verzerren bewusst die Wahrheit. Éducation aux valeurs war der Name des Fachs, das das Lycée Ermesinde, unter Aufsicht der Kirche, ins Leben rief. Vertreter des SEW und der Alpe waren von Anfang an skeptisch, weil es ihnen nach eigenen Aussagen eben nicht um Werteerziehung geht, sondern um das Kennenlernen und Abwägen unterschiedlicher Werte, auch religiöser, aber eben nicht nur. Jungen und Mädchen sollten von klein an befähigt werden, kritisch zu denken, zwischen Glauben und Wissen zu unterscheiden, Menschenrechte kennenlernen, aber auch Ideen und Religionen. Deswegen sprechen sie lieber von einem „neutralen“ Ethikkurs, neu-tral im Sinne: zu keiner Ideologie erziehend.

Im Regierungsprogramm steht nun „objektiv“, nicht neutral, aber was damit gemeint ist, scheinen nicht einmal die Vertreter des Ministeriums so genau zu wissen: Wahlweise wird dort vom „gemeinsame Werteunterricht“ oder vom „Ethikkurs“ gesprochen, einer soll in einem Gespräch gar gesagt haben, es gehe darum, Schüler „auch zu religiösen Werte zu erziehen“.

Kein Wunder, dass die Nerven blank liegen und keiner keinem so richtig über den Weg traut. Zumal vielen laizistischen Lehrern auch noch die unvermittelte Kopftuch-Circulaire von Minister Claude Meisch, die Schülerinnen und Schülern das Tragen von religiösen Zeichen wie Kippa oder Kopftuch erlaubt, schwer im Magen liegt und sie einen wachsenden Einfluss von Religion in der Schule befürchten. Den um ihren Job bangenden Religionslehrern hatte Meisch schon früh versprochen, „niemanden fallenzulassen“. In einem Interview mit der Zeitschrift Forum im Juni unter dem Titel „Die Gemeinsamkeiten im Blick haben“ hatte Meisch betont, die Frage der Aus- und Weiterbildung betreffe nicht nur die Religionslehrer allein, so dass sich nun auch Philosophielehrer fragen, um sie sich künftig weiterbilden müssen, um Ethik unterrichten zu können. Wie brisant das Thema Religion in der Schule ist, zeigt sich auch daran, dass selbst die Kräfte in der Politik, die sonst immer klar Position bezogen haben, sich mit einem Mal wegducken. Der grüne Bildungsexperte Claude Adam, vom Land zu den Vorgängen befragt, druckste herum, er wisse auch nicht mehr, und ansonsten gebe er keinen Kommentar ab. Die grüne Fraktionschefin Viviane Loschetter verweist auf die laufenden Verhandlungen, das Ministerium müsse „erst einmal liefern“. Sie warnte zugleich vor einer „Periode von Gerüchten, die schlecht für Politiker und Journalisten“ seien.

Nun ist die beste Strategie gegen Gerüchte und Verschwörungstheorien in der Regel Transparenz. Und eigentlich war diese Regierung mit dem Versprechen angetreten, ihre Regierungsgeschäfte transparenter zu gestalten. Wo ist der fast 60-seitige „Plan d’action pour une éducation au vivre-ensemble“ vom Juli 2008, der die Umsetzung eines Einheitskurs Schritt für Schritt vorsah und neben Ausführungen zu juristischen Fragen auch detaillierte Überlegungen zur Umschulung und Integration der rund 250 Katechetinnen beinhaltet, von denen viele kein Premierexamen haben, geschweige denn eine Lehrerausbildung? Warum legt das Ministerium wenn schon nicht die Ergebnisse der laufenden Beratungen, dann wenigstens die von einer DP-Ministerin lancierten und unter einer LSAP-Ministerin fortgeführten Vorarbeiten auf den Tisch? Weil dann die Öffentlichkeit bemerken könnte, dass die Vorlagen weitergingen als das, was die Regierung heute auszuhandeln versucht, und zudem billiger? Die von Religionslehrern gepushte Unterschriften-Initiative Fir de choix, die rund 25 000 Unterzeichner fand, schafft zusätzlichen politischen Druck.

Vom Land befragt, heißt es aus dem Ministerium, die früheren Vorlagen seien „wichtige Vorarbeiten“ und dienten als „Diskussionsgrundlage“, dank der man hoffe, „schnell voranzukommen“. Klar sei aber, dass man diese „nicht einfach übernehmen“ könne. Schließlich gebe es ein Koalitionsabkommen und das sehe einen „gemeinsamen Kurs“ vor. Das Ministerium hofft nun auf die „Professionalität aller Beteiligten“ und wirbt für etwas Geduld. Genau das haben viele schon zu oft gehört.

Ines Kurschat
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