leitartikel

Besonderes Sensorium

d'Lëtzebuerger Land vom 14.06.2024

In Frankreich gaben bei den Europawahlen am Sonntag 27 Prozent der jungen Wähler/innen zwischen 18 und 24 ihre Stimme dem Rassemblement National. Das ergab eine Umfrage für die Zeitung Les Échos. In Deutschland, wo Wahlrecht ab 16 gilt, stimmten laut einer Erhebung im Auftrag der ARD 16 Prozent der 16- bis 24-Jährigen für die AFD.

Wie sich das in Luxemburg verhielt, ist unbekannt. Exit polls nach Europawahlen gibt es hierzulande nicht. Falls am Sonntag zutraf, was in der zweiten Mai-Hälfte für die Studie Polindex 2024 der Universität Luxemburg als Prognose erhoben wurde, hätte nur ein ganz kleiner Teil der 18- bis 24-Jährigen ihre Stimme der ADR gegeben. Jedenfalls als Listenstimme ohne Blick auf die Kandidat/innen. Die Liste um Fernand Kartheiser rangiert im Polindex 2024 für die jüngste Gruppe der Befragten unter „Autres partis“. Diese „Anderen“ vereinen zusammengenommen nicht mehr als zwei Prozent der Präferenz der Jungwähler/innen auf sich. Während der LSAP in keiner anderen befragten Altersgruppe ein so gutes Abschneiden in Aussicht gestellt wurde wie in dieser: mehr als 20 Prozent der Listenstimmen. Alles in allem bevorzugten die jüngsten der Befragten zu rund 60 Prozent die Parteien der aktuellen Regierung, beziehungsweise der vorigen.

Man kann das beruhigend finden. In Deutschland wird dieser Tage diskutiert, ob es einen „Rechtsruck bei der Jugend“ gegeben hat oder ob jeder sechste Erstwähler es dem „System“ mal so richtig zeigen wollte. Für eine solche Debatte scheint in Luxemburg kein Anlass zu bestehen. Es sei denn, die Jungen stimmten am Sonntag ganz anders als die Vorab-Umfrage für die Uni ergab.

In Wirklichkeit aber besteht Anlass zur Beunruhigung. Einerseits, weil die Voten in Frankreich und Deutschland zeigen, was kommen kann. Andererseits, weil junge Menschen über ein besonderes Sensorium für Ungerechtigkeiten verfügen. In Luxemburg gibt es sie sehr wohl. Wenn die hohen Wohnungspreise – vom Eigenheim zu reden, wäre an dieser Stelle ziemlich abwegig – es jungen Menschen schwer oder unmöglich machen, das Elternhaus zu verlassen und ein eigenes Leben zu beginnen, ist das ungerecht und kann verzweifeln lassen. Zumal vor dem Hintergrund einer Welt, die immer chaotischer wird. Krieg in der Ukraine und in Gaza. Klimawandel. Ein Gesellschaftssystem, das vermittelt, am besten komme durchs Leben, wer sich selbst wie eine Firma managt und ständig innoviert. Als wäre der Übergang ins Erwachsenenleben nicht von Natur aus verstörend genug.

Für diese Zusammenhänge liefert die Studie der Uni Hinweise. Neben den 60 Prozent Zuspruch für die „Parteien der Mitte“ stehen 30 Prozent „Ich werde nicht wählen gehen“ oder „Ich werde einen weißen Wahlzettel abgeben.“ Und wenn die
18- bis 24-Jährigen jene Gruppe bilden, die mit 40 Prozent am zahlreichsten von allen Altersgruppen glaubt, die wirtschaftliche Lage der Europäischen Union werde besser werden oder gleich bleiben, stehen daneben weitere 40 Prozent, die meinen, sie werde schlechter oder viel schlechter. Die anderen trauen sich kein Urteil zu. Ihre persönliche Lebenssituation schätzen auf einer Skala von
1 (sehr unzufrieden) bis 10 (sehr zufrieden) knapp 40 Prozent mit 10 bis 8 ein, 25 Prozent mit 5 bis 3. In diesem Ausmaß nicht so ganz zufrieden äußerte sich keine andere Altersgruppe.

Das Beispiel Deutschland zeigt, wie in welchem Ausmaß das Wahlverhalten der Jungen umschlagen kann. Bei den Europawahlen 2019 hatten nur 5,5 Prozent der 16- bis 24-Jährigen ihre Stimme der AFD gegeben. Ihr Zuspruch für die anderen Parteien blieb ziemlich stabil. Mit Ausnahme dem für die Grünen: Er brach von 35 auf elf Prozent ein. Falls die Polindex-Prognose am Sonntag zugetroffen hat, besteht in Luxemburg ein ähnlicher Trend. Nur an die fünf Prozent der jüngsten Wähler/innen gaben an, für Déi Gréng stimmen zu wollen. In keiner anderen Altersgruppe waren es noch weniger. Die Sorgen der jungen Menschen hierzulande sind offenbar in erster Linie ganz materialistische. Klimawandel und Green Deal der EU hin oder her.

Peter Feist
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