Nach Angaben des Statec waren im September dieses Jahres 435 173 Personen berufstätig, davon 408 838 oder 94 Prozent in einem Lohnarbeitsverhältnis. Für beinahe die gesamte Bevölkerung ist die Arbeit gegen Lohn oder Gehalt der Regelfall, die Selbstständigkeit etwas wie eine Ausnahme. Auf die Frage, was ein Lohnarbeitsverhältnis ist, nennt die Gewerbeaufsicht auf ihrer Internet-Seite drei grundlegende Elemente des Arbeitsvertrags: „la prestation de travail; la rémunération; et le lien de subordination“.
Seit versucht wird, das Lohnarbeitsverhältnis durch die Scheinselbstständigkeit zu untergraben, ist das Unterstellungsverhältnis zum entscheidenden Kriterium der Lohnarbeit geworden. Ohne auf Uber zu warten, beschäftigen verschiedene Firmen Piloten, Lkw-Fahrer und Sushi-Boten, denen sie weder Sozialversicherung, noch Überstundenzuschläge, Kündigungsschutz, Erholungs- oder Krankenurlaub gewähren. Dazu zwingen sie die Beschäftigten, sich als selbstständige Zulieferer auszugeben. Der Rifkin-Bericht idealisiert diese Rückkehr zur Tagelöhnerei, zur Heimarbeit und zum Verlagswesen als „gig economy”, die „is now used to describe the labor and wage arrangements for jobs in this ‚on-demand economy’“ (S. 406).
Um im Streitfall die Grenzen zwischen Scheinselbstständigkeit und Lohnabhängigkeit zu klären, um zu ergründen, ob ein Fußballtrainer oder ein Belegarzt lohnabhängig ist, versuchen die Richter herauszufinden, ob zwischen dem Betrieb und dem Beschäftigten ein Kundenverhältnis oder ein Unterstellungsverhältnis besteht. Zur entscheidenden Frage wird dadurch, was ein Unterstellungsverhältnis ist. Aber niemand will sie klar beantworten.
Eine Antwort sucht man selbstverständlich zuerst im Arbeitsgesetzbuch, das in seiner Fassung vom 24. März dieses Jahres immerhin 652 Artikel und 360 Seiten umfasst. Aber der Schlüsselbegriff des „lien de subordination“ taucht dort gerade zweimal auf, in Artikel 127-2 über Firmenübernahmen und in Artikel 611-2 über die Gewerbeaufsicht. In diesen Artikeln wird definiert, was ein „salarié“ ist, nämlich eine Person „occupée par un employeur en vue d’effectuer des prestations rémunérées, accomplies sous un lien de subordination“. Was aber dieser „lien de subordination“ ist, definiert das Arbeitsgesetz nicht. Als das neue Arbeitsgesetzbuch 2006 verabschiedet wurde, hielt niemand es für nötig, diesen Schlüsselbegriff zu definieren.
Auch das Bürgerliche Gesetzbuch hilft nicht viel weiter. Es erklärt in Artikel 1779 knapp: „Il y a trois espèces principales de louage d’ouvrage et d’industrie: 1° le louage des gens de travail qui s’engagent au service de quelqu’un [...]“ und ergänzt in Artikel 1780 über „Du louage de domestiques et ouvriers“ wenigstens: „On ne peut engager ses services qu’à temps, ou pour une entreprise déterminée.“ Diese Einschränkung spiegelt Hegels Warnung in den Grundlinien der Philosophie des Rechts wider: „Durch die Veräußerung meiner ganzen durch die Arbeit konkreten Zeit und der Totalität meiner Produktion würde ich das Substantielle derselben, meine allgemeine Thätigkeit und Wirklichkeit, meine Persönlichkeit zum Eigenthum eines Anderen machen“ (I, § 67).
Weil offenbar noch immer Herr Herr und Max Max ist wie vor 200 Jahren, regelt der Code civil von 2017 das Lohnverhältnis noch immer unbeirrt im Wortlaut des Code Napoléon von 1804. Mit dem Gesetz vom 1. April 1885 war lediglich Artikel 1781 gestrichen worden, der besagt hatte: „Le maître est cru sur son affirmation, Pour la quotité des gages; Pour le paiement du salaire de l’année échue; Et pour les à-comptes donnés pour l’année courante.“
Um den „lien de subordination“ zu festigen, hatte die Französische Revolution auch die Arbeiter- und Dienstboten-Livrets eingeführt. Mit ihnen wurden die Lohnabhängigen an die Dienstherren gebunden, denen sie ihr Büchlein aushändigen mussten, ohne das sie als Vagabunden aufgegriffen wurden. „Comment, en l’absence de cette loi réglementaire, distinguer aujourd’hui le bon ouvrier du mauvais“, hatte Staatsminister Victor de Tornaco 1860 das Parlament bei einer Verschärfung des Gesetzes über die Livrets gefragt. Glaubt man übrigens dem digitalen Amtsblatt Legilux, so wurde das Gesetz über die Arbeiter- und Dienstboten-Livrets nie abgeschafft.
Weil der Gesetzgeber sich bis heute hütet, das Unterstellungsverhältnis zu definieren, müssen es im Streitfall die Richter tun. Das Arbeitsgericht fand 1986 und der Oberste Gerichtshof 1989, 1997 und 2008 sowie das Verwaltungsgericht 2011, dass „[l]e contrat de travail est celui qui place le salarié sous l’autorité de son employeur qui donne des ordres concernant l’exécution du travail, en contrôle l’accomplissement et vérifie le résultat“.
Inzwischen übernimmt eine auch vom Staatsrat zitierte gleichbleibende Rechtsprechung ein Urteil des französischen Kassationshofs vom 13. November 1996, das besagt: „Le lien de subordination est caractérisé par l’exécution d’un travail sous l’autorité de l’employeur qui a le pouvoir de donner des ordres et des directives, d’en contrôler l’exécution et de sanctionner les manquements de son subordonné. Le travail au sein d’un service organisé peut constituer un indice du lien de subordination lorsque l’employeur détermine unilatéralement les conditions d’exécution du travail.“
In dieser Definition wurde „vérifie le résultat“ durch „sanctionner les manquements de son subordonné“ ersetzt. So haben Richter das Unterstellungsverhältnis verschärft und den Unternehmern ausdrücklich das Recht eigeräumt, auch zu bestrafen. Diese Bestrafung reicht in der Regel von einem Eintrag in die Personalakte über eine Verwarnung bis zur Verweigerung einer Prämie und zur Entlassung. Aber das Arbeitsgesetzbuch schweigt sich auch über den Begriff der „insubordination“ aus. Obwohl Gerichte die Gehorsamsverweigerung durchweg als Grund zur fristlosen Kündigung anerkennen, wenn sie wiederholt oder zusammen mit dem Verlassen des Arbeitsplatzes geschieht.
Zwar nimmt ein eigenes Gesetz von 2008 sexuelle Dienste von dem Unterstellungsverhältnis aus, sollen die Kameraüberwachung am Arbeitsplatz, die Kontrolle des Email-Verkehrs und die Verfügbarkeit mittels Handys während der Freizeit eingeschränkt werden. Doch dass sich der Gesetzgeber bis heute weigert, den „lien de surbordination“ an sich, den zentralen Bestandteil des Lohnarbeitsverhältnisses, dem fast die gesamte Bevölkerung unterliegt, zu definieren, verfolgt nicht bloß die übliche Absicht, im Interesse des Stärkeren eine rechtliche Grauzone zu schaffen. Es gibt auch einen politischen Grund dafür. Denn der in Artikel eins der Verfassung beschworene demokratische Staat hört jeden Werktag für Hunderttausende im Land am Werktor und am Büroeingang auf, wenn sie gegen einige Tausend Euro Monatslohn auf ihre Selbstbestimmung und Bürgerrechte verzichten und sich einem Unternehmer oder Verwaltungschef unterordnen. Auch wenn der patriarchalischen Willkür des Patrons vielerorts die wissenschaftliche Arbeitsorganisation gefolgt ist, in der sich die Beschäftigten dem Rhythmus der Stanzmaschinen und Bürocomputer, der Arbeitsteilung, Hausordnung und internen Mitteilungen beugen. Und der Managerismus sie dazu bringen will, sich hoch motiviert und freiwillig der Erfolgspflicht statt der Handlungspflicht zu unterwerfen.