Nicolas Schmit ließ nicht lange auf sich warten. Nur ein paar Stunden, nachdem der OGBL am Dienstag Vormittag mit bitteren Worten die Berufsinvaliden-Regelung kritisiert hatte, gab der LSAP-Arbeitsminister im RTL Radio der Gewerkschaft Recht: „Das Gesetz ist nicht nah genug bei dem, was die Leute brauchen.“ Es bestünde „eine Reihe Ungenauigkeiten, aus denen sich tatsächlich Situationen ergeben, die nicht ausreichend abgedeckt sind“. Deshalb „muss man schauen, Anpassungen am Gesetz vorzunehmen“.
Wahrscheinlich aber fiel es dem Minister nicht leicht, öffentlich zu erklären, dass das Regelwerk über die Berufsinvalidität und die berufliche Wiedereingliederung schon wieder angepasst werden soll. Regierungsintern wird zwar schon seit Anfang des Jahres davon ausgegangen, dass daran kaum ein Weg vorbeiführt. Arbeits-, Gesundheits- und Sozialministerium haben dazu eine gemeinsame Arbeitsgruppe eingesetzt. Doch das aktuell geltende Gesetz war erst am 1. Januar 2016 in Kraft getreten und eine größere Reform gewesen, an der schon unter der vorigen Regierung mit demselben Arbeitsminister gearbeitet worden und auf die Nicolas Schmit ziemlich stolz war. Aber vorher hatte es, seit 2002, bereits zwei kleinere Reformen gegeben. Die Invaliditätsgesetzgebung war, so scheint es, nie gut genug. Und jede Änderung war ein ziemlicher Kraftakt.
Dafür gibt es mindestens drei Gründe. Der erste: An einer zu strengen Regelung haben nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Unternehmer kein Interesse. Der zweite: Es fehlt an Arbeitsmedizinern. Der dritte: Im Hochlohnland wurde stets versucht, zwischen Ansässigen zum einen und Grenzpendlern und Arbeitsmigranten zum anderen zu unterscheiden, ohne dabei EU-Recht zu verletzten.
Die gewisse Sozialpartnerschaft von Gewerkschaften und Unternehmern in der Sache ist alt. Bis in die Neunzigerjahre nutzte so mancher ältere, sich ausgelaugt fühlende Erwerbstätige die Invalidenrente, um den zunehmenden Anforderungen des Arbeitslebens zu entgehen. Und so manche Unternehmen nutzten sie, um sich von älteren Beschäftigten zu trennen und leistungsfähigere jüngere zu niedrigeren Gehältern einzustellen. Viel Anstoß erregte das deshalb nicht, weil während der Stahlkrise der Achtzigerjahre der Stellenabbau bei der Arbed ganz offiziell auch über die Gewährung von Invalidenrenten sozialverträglich abgewickelt wurde. Es reichte, medizinisch bescheinigt zu bekommen, unfähig zu sein, seinen Beruf ausüben zu können. Die Invalidenrente ging beim Erreichen des 65. Lebensjahrs automatisch in eine Altersrente über.
Ende der Neunzigerjahre aber kippten Gerichtsurteile das Kriterium „Berufsunfähigkeit“ und ersetzten es durch die „Arbeitsunfähigkeit“. Weil Luxemburg überdies von OECD, ILO und EU bescheinigt wurde, zu viele Invalidenrentner zu haben, wurde 2002 das erste Gesetz verabschiedet, das Teilinvalide einführte, die aber nicht so heißen sollten: Entweder sollten sie im alten Betrieb auf einen schonenderen Arbeitsplatz umgesetzt werden, was seitdem reclassement interne heißt, oder bei der Adem als arbeitslos gemeldet und von ihr „extern“ ins Berufsleben wiedereingegliedert werden. Während die Adem das versuchte, wurde ein „Wartegeld“ aus der Pensionskasse gezahlt. Es war so hoch wie eine Invalidenrente, falls der oder die Betreffende sie zuerkannt erhalten hätte.
Die große Reform, die 2016 in Kraft trat, war unternommen worden, weil die OECD Luxemburg schon 2007 bescheinigt hatte, die Wiedereingliederung funktioniere nicht und habe „eine neue Kategorie behinderter Arbeitsloser“ entstehen lassen. In welchem Umfang, wird daran deutlich, das selbst heute rund die Hälfte der bei der Adem noch mit Wartegeld auf eine externe Wiedereingliederung Wartenden das schon seit mehr als zehn Jahren tut. Und: Es sind insgesamt um die 3 200 Personen, die warten.
Die neuen Regeln sollten Abhilfe schaffen, nach und nach. Die bei der Adem aufgelaufenen Fälle werden „reevaluiert“. Wer von der Adem extern wiedereingegliedert wurde, aber seinen Job verliert, kann seit 2016 erneut zu den Wiedereinzugliedernden gezählt werden und landet nicht mehr einfach in der Arbeitslosigkeit. Dafür sorgt das neue Statut eines „Einzugliedernden“. Und: Wer seit dem 1. Januar als „neuer Fall“ extern wiedereingegliedert werden soll, erhält nicht nur ein Wartegeld in Höhe einer Invalidenrente, sondern ein „Ersatzeinkommen“, das sich netto an 80 bis 85 Prozent des Durchschnittslohns der letzten drei oder zwölf Monate bemisst, aber nicht höher sein kann als der zweifache Mindestlohn. Das soll vor allem Grenzpendlern und Arbeitsmigranten entgegenkommen, die in Luxemburg nur zum Teil rentenpflichtig waren, ehe sie langzeitkrank wurden. Laut OGBL erhalten „viele“ Grenzpendler und Migranten im alten Regime, die auf Eingliederung durch die Adem warten, nur 400 bis 600 Euro Wartegeld im Monat.
Weil seit 2016 manches besser wurde, äußerte sich der OGBL am Dienstag nicht etwa völlig vernichtend. Ersatzeinkommen und Wiedereinzugliedernden-Statut einzuführen, hatte auch die Gewerkschaft vorgeschlagen. Doch: Der Regierung lag daran, das Ersatzeinkommen, das theoretisch bis zum Erreichen des legalen Renteneintrittsalters gezahlt wird, nicht zu leicht zu vergeben, damit sich das nicht etwa bis ins krisengebeutelte Südeuropa herumspräche. Von dort, das räumt auch der OGBL ein, kämen Migranten, die versuchten, ein paar Jahre hier zu arbeiten und sich dann krankschreiben und wiedereingliedern zu lassen, in der Hoffnuing, dass das nie klappt. Am liebsten hätte die Regierung verlangt, das neue Ersatzeinkommen erhielte nur, wer zehn Jahre in Luxemburg gearbeitet hat. Da das vermutlich EU-vertragswidrig wäre, gelangten ins Gesetz Formulierungen wie „zehn Jahre im selben Betrieb“ oder „mit derselben Arbeitsaufgabe“ beschäftigt.
Das sorgt nun für Probleme, wie der OGBL am Dienstag anschaulich berichtete. Da die Zehn-Jahre-Forderung an ungenaue Kriterien gebunden ist, ist sie Interpretationssache einer Gemischten Kommission. Das nach dem Tripartite-Prinzip aufgebaute Gremium entscheidet, ob jemand für dauerhaft invalid erklärt wird und Rente erhält, betriebsintern umgesetzt oder extern wiedereingegliedert werden soll. Einem Arbeiter mit 35 Jahren Stahlkarriere aber seien, so OGBL-Exekutivmitglied Carlos Pereira, die „zehn Jahre“ nicht anerkannt worden, weil sein Betrieb zwischenzeitlich von der Arbed an ein ausländisches Unternehmen verkauft, dann aber von der späteren Arcelor erneut übernommen wurde. Beispiele wie dieses gebe es noch mehr, etwa aus Subunternehmen der Bau- und der Reinigungsbranche.
Ohne die zehn Jahre eingestuft zu werden, ist auch in anderer Hinsicht von Nachteil: Überhaupt in die Prozedur vor der Gemischten Kommission zu gelangen, kann für solche Personen nur der Medizinische Kontrolldienst der Sozialversicherung beantragen. Für Personen mit den zehn Jahren kann das auch ein Arbeitsmediziner. Das ist sicherer, wie sich unlängst zeigte: Ein Fassadenbauer, der seine Arme kaum noch heben konnte, wurde von einem Kontrolldokter für arbeitsfähig erklärt. Ein Arbeitsmediziner erklärte den Mann für berufsunfähig am letzten Arbeitsplatz und damit implizit zum Kandidaten für eine externe Wiedereingliederung. Die Gemischte Kommission aber konnte der Arbeitsmediziner in dem Fall nicht anrufen, das konnte nur der Kontrolldienst. Der aber unterließ das. Doch weil der Fassadenbauer zuvor für arbeitsfähig erklärt worden war, endete damit sein Krankenschein. Der Fall gelangte bis in den Vorstand der CNS, der sich in einer spektakulären Abstimmung Mitte Mai mit den Stimmen von Gewerkschafts- und Unternehmervertretern gegen den Kontrolldienst stellte und argumentierte, hier gehe es nicht um medizinische Expertise, sondern um die Frage, Krankengeld oder nicht. Endgültig entschied darüber die Generalinspektion der So-
zialversicherung, und die gab der CNS Recht.
Für den OGBL liegt auf der Hand, dass die „Interpretationsspielräume“, die seit der 2016 in Kraft getretenen Reform bestehen, genutzt werden können, „um maximal viele Leute aus der Prozedur rauszudrücken“, so Carlos Pereira, und mittlerweile werde das immer öfter versucht. Früher sei es normal gewesen, dass ein Arbeitsmediziner den Kontrolldienst kontaktierte und bat, für einen Patienten die Gemischte Kommission anzurufen. „Heute funktioniert dieses Gentlemen’s Agreement nicht mehr“, urteilt Carlos Pereira.
Während der OGBL in Fällen wie den eben genannten weniger Interpretationsspielräume wünscht, wäre, ginge es nach ihm, das Gesetz weniger streng, wenn es um die innerbetriebliche Wiedereingliederung geht. Bis 2016 mussten Betriebe ab 50 Beschäftigten nur wiedereingliedern, wenn sie keine behinderten Mitarbeiter bis zu einer gewissen Quote an der Gesamtbelegschaft beschäftigten. Seit 2016 gilt allein die Belegschaftszahl als Kriterium und die Schwelle wurde auf 25 gesenkt. Der OGBL hat Verständnis dafür, dass kleinen Betrieben die Wiedereingliederung schwerfallen kann. „Umso mehr, da noch nie Sanktionen verhängt wurden“, sagt Carlos Pereira. Wer die Wiedereingliederung verweigert, muss bis zu 24 Monatsgehälter der betreffenden Person Strafe zahlen. Doch da das noch niemand musste, hat der OGBL den Verdacht, so mancher Betrieb fühle sich angeregt, gar nicht erst über eine Wiedereingliederung nachzudenken, sondern den betreffenden Beschäftigten so lange im Krankenschein hinzuhalten, bis er entlassen werden kann. Selbst eine Gemeindeverwaltung – die Kärjenger – habe sich bei der gemischten Kommission ganz cool erkundigt, was es denn „kostet“, nicht wiedereinzugliedern.
Die innerbetriebliche Umsetzung solcher Mitarbeiter wäre aber auch einfacher, wenn es mehr Arbeitsmediziner gäbe. Schon seit fast 20 Jahren beklagt der Verband der Arbeitsmediziner, für Recherchen um Arbeitsplatzverbesserungen zwecks betriebsinterner Umsetzungen hätten die Ärzte nicht genug Zeit. 2012 ergab ein dem damaligen Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) vorgelegter Bericht, in Luxemburg komme auf 7 000 Berufstätige ein Arbeitsmediziner. In Frankreich, zum Vergleich, ist es einer auf 2 500. Di Bartolomeo hatte noch an einer Reform zu arbeiten begonnen, aber dann kamen die vorgezogenen Wahlen dazwischen. Die aktuelle Regierung hat sich im Koalitionsprogramm vorgenommen, die Arbeit weiterzuführen, ist aber noch nicht sehr konkret geworden. Die Probleme sind insgesamt kompliziert. Vermutlich würde sie Regierung sie lieber intern diskutieren, statt den OGBL mit am Tisch zu haben. Der hatte eine solche Beteiligung mit seinem Vorstoß vom Dienstag bezweckt.